Audio: Nr 17: Ich sehe nichts, wo du was siehst (Gesichtsfeldausfall)

(Das Foto zeigt ein leeres Regalbrett in Rot)

Einkaufen im gutbekannten Supermarkt ums Eck. Direkt am Eingang laufe ich ein Schild um. 3 m weiter rempele ich unsanft eine alte Dame an, die mich konsterniert anschaut. Ich kämpfe mit den Tränen.

Die berühmten Tomaten auf den Augen oder was ist hier los?

Tomaten auf den Augen, I wish. Ich kenne die Anzeichen von myopischer Makuladegeneration und Netzhautausdünnung. Jetzt also auch rechts.

Stufe 2 Gesichtsfeldausfall: Liebes Auge, ich übernehme!

Auf dem Regalbrett liegt es nicht. Doch auf dem Tisch? Ich bin doch nicht blöd, es muss auf dem Regal liegen. Nein. Ich frage meinen Freund: „Hast du mein Handy irgendwo gesehen?“.  „Da liegt es, auf dem Regal.“ Jetzt sehe ich es auch.

Spaziergang durch die Nachbarschaft. Im Sträßchen rechts winkt eine Dame. Wem winkt sie zu?, frage ich mich, und schon höre ich das Auto unsanft bremsen. Hingeschaut und doch nichts gesehen.

Was passiert hier?

Unser Gehirn ist grandios. Wirklich, ganz ohne Ironie. Sehen funktioniert nur über Gehirn, Gehirnausfälle haben daher oft auch Sehausfälle zur Folge.

Unser Gehirn denkt mit und ersetzt aus seinem Erfahrungsschatz die Dinge, die die Augen nicht mehr sehen können.  

Mein Auge sieht das Mobiltelefon auf dem Regal nicht mehr? Dann malt mein Gehirn mir das Regalbrett. Es will mir helfen und foppt mich dadurch. Ich merke nicht, dass etwas fehlt. Es sieht perfekt aus, keine Löcher oder graue Stellen. Ein Regal, so wie es sein muss.

Mal sehe ich alles, so wie es ist und mal etwas, so wie das Gehirn es mir malt. Noch ist alles ein Prozess und kein Zustand. An einem Tag ist es so, an einem anderen etwas anders. Abhängig von Sonne, Trockenheit der Augen oder Müdigkeit. Gut ist es nie.

Wissenschaftlich gesehen, sehen wir alle die ganze Zeit das, was das Gehirn uns malt, bisher war es nur dichter an den Realitäten. Zumindest glaube ich das.

Integration ins Leben

Für mich bedeutet dies, mich mal wieder auf etwas Neues einzustellen. Es bedeutet, zu hoffen, dass sich das Gehirn auch dieses Mal als elastisch erweist und Manches neu sehen lernt. Das passiert, immer wieder. Nein, unsere Augen haben sich nicht wie durch ein Wunder verbessert, unser Gehirn ist das Wunder in seiner Lernfähigkeit.

Traurigkeit

Eine Woche lang bin ich traurig. Mir kommen Tränen, wenn ich nicht mit ihnen rechne. Das ist gut so. Verlust macht traurig, immer. Es kann nicht anders sein. Traurigkeit ist eine gesunde Reaktion auf jeden Verlust. Also: Hallo Traurigkeit!

„Was kann ich tun?“ , fragt ein Freund. Sehr viel: Zuhören und mitfühlen.

Dann gewinnt der Kampfgeist.

Wissen hilft!

Es ist erwiesen: Wissen und Verstehen helfen, um einen Verlust zu verarbeiten. Mehr noch: Sie sind notwendig.

Darum stelle ich nach dem Mobiltelefonwegfall-Vorfall Fragen an Mit-Held*innen in Facebookgruppen: Kennt ihr das auch? Wie geht ihr damit um?
Ja, es geht ihnen auch so. Ich spinne nicht, das ist gut zu wissen. Ich erhalte Zuspruch und wertvolle Tipps, eine Art Basiskursus für den Umgang mit Gesichtsausfall. Die Einsteigertipps gebe ich natürlich auch an euch weiter.

Tipps zum Umgang mit Gesichtsfeldausfall

  • Kontraste, Kontraste, Kontraste: Je mehr sich Dinge voneinander abheben, je besser sind sie sichtbar. Klar eigentlich.
  • Türen sind offen oder geschlossen. Das vermindert die Wahrscheinlichkeit, sich zu stoßen, weil wir den Abstand falsch einschätzen
  • Täglichen Gebrauchsgegenständen einen festen Platz geben
  • Beim Schauen „scannen“: Blick von links nach rechts und oben nach unten schweifen lassen
  • Wenn möglich: Tasten (Das erklärt sich natürlich von selbst, wenn du mal weißt, was dein Gehirn so tut)
  • Hilfreiche Whatsappfunktion: Sprache nach Text* (Wie das funktioniert, erkläre ich unten)

Freude am Lernen

Meist sehe ich mein Handy noch. Nach einigen Wochen üben laufe ich nicht mehr ins Schild und die alte Dame darf ohne Angst in den Supermarkt kommen.

Dies wird sich mit großer Sicherheit weiter verändern. Dann, so denke ich, schadet es nicht, jetzt schon mal einige Dinge neu zu lernen, Basiswissen umsetzen.

Und irgendwie passt dies auch: Es war schon immer meine Leidenschaft, neue Dinge zu lernen. Ich liebe es, mich in andere Welten einzufinden. (Lese hier nochmal meinen Artikel „Werde doch Beamtin“)
Stärken bleiben Stärken und ich beschließe die meinen zu nutzen für mein Leben als Sehheldin.

Informationsnotstand

Diese Informationen scheinen einfach, logisch – und doch muss ich mir sie mühsam zusammensuchen. Mal wieder muss ich mir Zusammenhänge selbst erschließen.

Liebe Ärzte, bitte sagt uns auch konkret, was Gesichtsfeldausfall heißen kann. Damit wir nicht an unserem Verstand zweifeln, wenn wir plötzlich unser Mobiltelefon nicht mehr wiederfinden. Damit wir unser Leben schützen an Straßenübergängen.

Liebe Mit-Held*innen, teilt und und helft zu informieren! Raus aus der Unsichtbarkeit. Denn auch unsere Umgebung muss es verstehen. Es reicht nicht, wenn wir die Informationen für uns behalten.

Auf bald! Eure Anne



*Whatsapp Sprache nach Text – so funktionierts

Gehe zum Chat und klicke in das Textfeld. Dann öffnet sich die Tastatur. Siehst du das kleine Mikrofon in Schwarz? (Also nicht das große für Sprachnachrichten) Je nachdem, ob du eine Tastatur für eine oder mehrere Sprachen hast, befindet sich dieses Mikrofon auf einer anderen Position. Bei mir (mehrere Sprachen) befindet es sich direkt in der Zeile unter der Texteingabe ganz rechts. Klicke dieses Mikrofon an. Was du einsprichst, erscheint als Text. Tip: Satzzeichen ohne Pause sagen. (Sonst steht da dann komma oder punkt)


Anmerkung: Ich bin keine Medizinerin und garantiere nicht für 100%ige Korrektheit. Sollten Experten, die mitlesen, Fehler entdecken: Bitte kommentiert und helft, Fakenews aus der Welt zu schaffen!


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