Mein Blogartikel ist die Antwort auf den Schreibimpuls von Anna Koschinski in einer ihrer Blognächten: „Dafür lohnt es sich zu kämpfen“. (Völlig überarbeitet im Dezember 2024)
Kämpfen? Meine Definition (für hier)
Einschub für alle, die wie ich mit dem Wort „kämpfen“ hadern
Kämpfen ist nicht mein Wort. Erst sträubt sich etwas, dann nehme ich das Kriegerische und Verbissene heraus und definiere „kämpfen“ grob so: Dich mit ganzem Herzen für etwas einsetzen, auch wenn es nicht leicht ist, weil du fühlst: Dieser Mensch möchte ich sein.
Dich (unbewusst) aufgeben oder das Leben neu annehmen: Du hast zwei Möglichkeiten, wenn eine Krankheit dein Leben verändert
Wenn eine chronische Krankheit, permanente Einschränkung oder Behinderung dein Leben drastisch verändert, dann hast du zwei Möglichkeiten:
- Dich von deinem Körper und deiner Krankheit leben zu lassen, das heißt entweder ausschließlich zu reagieren oder ihre tief- und weitgehenden Einflüsse auf dein Leben zu negieren
oder - Zu akzeptieren, dass dies deine neue Realität ist und alles zu tun, um in deiner neuen Realität zu „landen“ , das heißt, dazu die bewusste Entscheidung zu treffen und für dich in jeder Hinsicht sorgen.
Wie du dir vielleicht denken kannst, fällt meine Wahl eindeutig auf Antwort Nummer zwei. Denn:
Wenn dich deine Krankheit lebt, wenn du ausschließlich re-agierst auf sie, dann lebst du nicht wirklich. Denn du findest dann alte Antworten auf eine neue Lebensfragen. Und damit hängst du in jeder Hinsicht fest in deiner Vergangenheit.
Was bedeutet: Du lebst ein Leben, das nicht mehr deines ist.
Anne Niesen / SEHHELDIN
Fakt ist: Du kannst nicht landen, wenn du deine Antworten im alten Erfahrungsschatz suchst
Ich habe sehr viel international gearbeitet, viele internationale Teams und Expats begleitet, ein Jahr in England und vier Jahre in Japan gewohnt; nun lebe ich vermutlich für immer in den Niederlanden. Ich wechsele täglich zwischen drei Sprachen, manchmal kommt noch eine vierte hinzu. Internationalität und Interkulturalität sind meine Leidenschaft und mein Leben.
Seit sehr vielen Jahren beschäftige ich mich intensiv theoretisch und praktisch mit interkulturellen Dynamiken und erforsche, was nötig ist, um in einer neuen Kultur wirklich anzukommen auf allen Ebenen. Interkulturelle Kompetenzen sind weitgehend und umfassen Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Es ist Haltung und innere Überzeugung.
Wenn dein Leben dich in ein völlig neues Umfeld führt, gibt es unterschiedliche bewusste und unbewusste Möglichkeiten, darauf zu reagieren.
Deine Möglichkeiten auf das neue „Andere“ zu reagieren:
- Negieren (Verneinen): Das bedeutet, dass du denkst, dass das Neue gar nicht „so anders“ ist. Das wird dann in der Regel begleitet von Sätzen wie: „Wir sind doch alle Menschen mit den gleichen Grundbedürfnissen.“
Dein Gehirn macht dich dann glauben, dass die spürbaren Unterschiede nicht wichtig sind und im Prinzip keine Rolle spielen.
Bei dieser Reaktion handelt es sich um eine Art unbewusster Schutzfunktion: Du blendest Vieles aus, alle Schattierungen und Lagen, die ganze Komplexität. Du vereinfachst unbewusst, das, was extrem komplex ist und schützt dich damit vor einem Gefühl der Überforderung.
Das kann punktuell eine hilfreiche Strategie sein, längerfristig verhindet sie, dass du wirklich verstehst, dass du zu einem Teil wirst in deiner neuen Lebenssituation. Du machst dich dadurch selbst zu einer Randfigur des Lebens gemeinsam mit anderen Randfiguren. Eingerichtet in dem, was sich bekannt anfühlt und weniger fordert. (Ein häufiges Phänomen in Expatcommunities) - Überanpassung: Das bedeutet, dass du dich so sehr an deine neue Lebensumgebung anpasst, dass eigene Konturen verloren gehen und deine eigene Persönlichkeit verschwimmt – auch für dich selbst.
Das sieht von Außen oft „integriert“ aus und ist für die „locals“ zunächst einfach im Umgang. Tatsächlich lebst du ein Leben, das in vielerlei Hinsicht nicht deines passt. Überanpassung verhindert nicht nur,dass du deine Talente und Gaben wirklich in die Welt bringst, sondern auch, dass du DEIN Leben lebst. Viele Überangepassten kommen in ein Burn-Out oder entwickeln depressive Verstimmungen. - Aktive Entwicklung: Du machst dir bewusst, dass du dich in einer neuen Lebenssituation und in einem neuen Umfeld befindest, dass du nicht „kannst“ und nicht verstehst und begibst dich genauso bewusst auf einen Entwicklungsweg. Wenn du in Personalentwicklungsbegriffen denkst, machst du hier eine Art Potentialanalyse für deine Interkulturellen Kompetenzen.
Was da heraus kommt, ist hoch-subjektiv und absolut abhängig von dem, was du in deinem bisherigen Leben für dich schon auf- und ausgebaut hast. Vielleicht bringst du schon Einiges mit, vielleicht bist du da Neuling.
Negieren ist vielleicht deine spontane Reaktion, das ist menschlich, gerade, wenn alles gerade zu viel ist. Sinnvoll und hilfreich ist es nicht. Überanpassung tut werder dir noch deinem Lebenserfolg gut – und bringt dir auch keinen Respekt ein. Dann ist deutlich, was meine Präferenz hat, oder? 🙂
Ich bin überzeugt: Nur, wenn wir bewusst und immer wieder aufs Neue die Entscheidung treffen, uns neugierig, mutig und zuversichtlich (Die SEHHELDIN-Werte!) auf diese spannende Reise ins noch-Unbekannte zu begeben, werden wir wirklich landen in unserem neuen Leben und damit bei uns selbst.
Interkulturelle Kompetenz, wenn es für immer ist
In Tokyo für drei Monate? Reiner Spaß! Für eine ganze Weile am Meer in Spanien in einem internationalen Co-Working-Space? Das kann sich auch ohne jegliche interkulturelle Kompetenz als voller Erfolg anfühlen.
Völlig ander ist das, wenn es eben nicht für eine absehbare Zeit ist, sondern für sehr lange oder vielleicht sogar für immer. Wenn du dich nicht als Tourist*in am Rande aufhälst, sondern mittendrin bist. Dann, erst dann stellt dir das Leben sehr viele Fragen. Fragen, auf die du spontan keine echten Antworten hast, sondern nur die alten, aus dem Leben davor.
Dann hilft es dir, wenn dir absolut bewusst ist: Du betrittst Neuland. Und für dieses neue Land dafür möchtest du ganz viel Neues lernen und erfahren.
Parallelen zu Lebenseinschnitten – nicht nur durch Krankheit
➡️ Fakt ist: Eine Einschränkung, nicht-angeborene Behinderung oder chronische Krankheit katapultieren dich in eine neue, dir unbekannte Welt!
Irgendwann wurde mir plötzlich klar: Auch mein Leben mit einer fortschreitenden Augenerkrankung, mit mehr und mehr Einschränkungen auf so vielen Ebenen, katapultiert mich raus aus den mir selbstverständlichen Welten in völlig neue und mir absolut unbekannte Welten. Immer wieder aufs Neue, raus aus der Komfortzone, nach der ich mich gleichzeitig so sehne.
Eines Tages plante ich einen Input gemeinsam mit Prof. Dr. Andreas Moerke (Hochschule Worms), in dem es um das Thema Intercultural Challenges gehen soll. Wir diskutieren und grenzen das Thema ein, überlegen, was ich den internationalen Studierenden mit auf den Weg geben möchte. Und plötzlich war so deutlich, was ich vorher nur unbewusst wahrgenommen hatte:
1) Meine neue Lebenswelt mit einer Seheinschränkung und allen Folgeerscheinungen sind eine Art Kulturschock für mich, völlig neu, es fehlen mir auf allen Ebenen die Erfahrungen, Einsichten und Handlungsoptionen.
2) Wie sehr profitiere ich von meinem jahrzehntelange erworbenen und gelebten Wissen zu Interkulturellen Kompetenzen und von der Lebenshaltung, die damit einhergeht.
Ja, klar, dachte ich überrascht: Da gibt es ja unendlich viele Parallelen! Ehrlich gesagt, finde ich diese Erkenntnis ziemlich cool, weil ich sie so noch nirgendwo gelesen habe. 🙂
Jede chronische Krankheit, jede Einschränkung und Behinderung, jede Diagnose, die bleibt, katapultiert dich in unbekannte neue Welten und Kulturen. Die ganzheitlichen und tiefgehenden Kompetenzen, die das Herz von Interkultureller Kompetenz sind, sind da absolut hilfreich. Und das Schöne ist: Wenn du dich entscheidest, dass du hier etwas Neues für dich lernen und aufbauen willst, dann ist das absolut möglich!
Interkulturelle Kompetenz ist lernbar – wenn du dich dafür einsetzt
Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung ist immer eine Entscheidung, deine Entscheidung! Leichter ist es natürlich, wenn es dir Spaß macht, dich weiterzuentwickeln. Wie ist das bei dir?
Ein Umzug ins Ausland beginnt auch zunächst mit Lernen an der Oberfläche: Praktisches, leicht Sichtbares, wie Essmanieren oder einfache Höflichkeitsformen. Du beginnst zunächst damit, Dinge über „die anderen“ zu lernen und Dinge im Aussen.
Übertragen zum Beispiel bei einer chronischen Erkrankung oder späten Behinderung könnte das sein:
- Praktisches Wissen: Gibt es für mich praktische Hilfsmittel, die mein Leben erleichtern? Wenn ja, was? Kann ich etwas im Alltag umplanen oder anders einrichten? Was heißt das für mein Leben? Gibt es da Lösungen für? Kenne ich mich medzinisch gut aus und bin informierte Patientin?
Das ist aus meiner Sicht die absolute Basis, um nicht einfach nur Spielball deiner Krankheit zu sein.
Punkte zwei und drei hängen zusammen, sind miteinander verwoben. - Innere Entwicklung: Eine so krasser Lebenseinschnitt auf jeder Ebene konfrontiert dich mit deinen Lebenseinstellungen, deinen Werten, deinen Glaubenssätzen, mit gesellschaftlichen Normen und mit tiefsitzenden Ideen zu deiner Identität und zu dem, was für dich bisher ein erfolgreiches und glückliches Leben war.
Nur, wenn du dir darüber bewusst bist und dir konkret überlegst, wo du etwas für dich verändern und umlernen möchtest und warum, übernimmst du Verantwortung für dein Leben. Und das fühlt sich gut an! - Tiefergehendes Wissen: Jede neue völlig neue Lebenswelt fragt um neues Wissen. Wissen, das für dich vorher entweder nicht relevant war oder nicht relevant genug, um sich dafür Zeit zu nehmen. Welches neue Wissen für dich bereichernd ist, das ist abhängig von deinem Vorwissen natürlich.
Eine kleine Auswahl an Themen, mit denen ich mich neben vielen Anderen beschäftige, seitdem mich meine Augenerkrankung in neue Welten befördert: Was bedeutet Verlust und Trauer bei Krankheit? Welche neueren Ansätzen gibt es da in Psychologie oder Philosophie oder anderen Wissenschaften? Was gibt es an Ansätzen und Perspektiven zu Themen Rund um „Behinderung“ ? Was davon hat mit mir zu tun? Was ist Mit-Gefühl (compassion) eigentlich und was Mitgefühl mit mir selbst? Und warum ist das gut für mich?
Und das ist wirklich nur eine kleine Auswahl.
Wenn du dich liebevoll und auch mit Mitgefühl für dich selbst um all diese Ebenen kümmerst, dann wirst du in deinem neuen Leben landen. Das heißt, in DEINEM Leben, jetzt.
Bei mir gibt es kein „Muss“. SEHHELDIN sein heisst für mich, Verantwortung für dein Leben tragen. Es ist, und das meine ich weder ironisch noch als Angriff, wie immer deine Entscheidung. Verantworung übernehmen bedeutet auch, dass du dich auch gegen etwas entscheiden kannst, wenn du das bewusst tust, mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt. Die Frage ist immer: Was passt zu dir? Was möchtest DU?
Als Impuls: Meine Entwicklungsreisen zur Zeit
Als Impuls und damit deutlich ist: Ja, ich bin auch dabei! Natürlich, denn ich will hier ja nicht von Dingen sprechen, zu denen ich nicht bereit bin.
- Ich lerne, mich mehr und mehr dem Leben anzuvertrauen.
- Ich lerne, Mitgefühl mit mir selbst. (eh was, hätte ich noch vor nicht Langem gedacht. Keine Ahnung, was damit überhaupt gemeint ist)
- Ich bin ein sehr freiheitsliebender Mensch. Ich lerne, wie ich Hilfe annehmen kann und mich dabei trotzdem frei fühlen.
- Ich lerne: Mal geht es gut, mal geht es schlecht. Mal bin ich wütend, mal resigniert, mal traurig, mal voller Tatendrang, mal überfordert, mal voller Lebensfreude, mal habe ich zu nichts Lust. Genau das ist LEBEN. (Bei mir gibt es keine Toxic Positivity)
- Ich setze mich mit meiner neuen Teil-Identität auseinander: Als eine Frau mit einer Sehbehinderung, mit allen Konsequenzen davon.
- Ich lerne, Frieden damit zu schließen, dass meine Veränderungen auch alte Beziehungen kosten.
Diese Aufzählung verändert sich natürlich, weil ich dazu lerne und weiter lerne; weil meine Lebens- und Augensituation nicht statisch sind. Was vor sechs Monaten noch eine große Frage war, ist es vielleicht heute nicht mehr oder gerade nicht mehr. Was mir heute noch fremd ist, ist irgendwann ein Teil von mir. Es ist im Fluss! Leben eben :).
Eines, weiß ich ganz sicher: Zurück zur alten Anne will ich nicht mehr und kann es auch nicht – zu sehr habe ich mich verändert. Und weißt du was? Ich bin so froh und auch stolz über diese Anne, die ich jetzt bin und freue mich auf die, die ich noch werden werde.
Dafür lohnt es sich zu kämpfen!
Meine Antwort:
Für MEIN Leben. Ein echtes Leben, mit Allem, was dazugehört. Einem, bei dem ich in meiner Gegenwart lande und mutig und zuversichtlich in meine Zukunft blicke – was sie auch bringen wird.
Erzähle mir: Was möchtest du neu für dich lernen und entdecken? In welchem Feldern möchtest du dich entwickeln für dich und dein Leben? Als Nicht-Expertin fällt dir hier eine Antwort vermutlich schwer. Du musst nicht alleine reisen! Schreibe mir eine Email: hallo@sehheldin.eu.
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Ein toller, bewegender Text. Der Mut macht, sich mit Gebrechen zu arrangieren und das Wichtigste, die lebendige Lebenslust trotzdem nicht aufzugeben!
Hallo Anne.
Das ist ein ganz toller Text🤗 .Er läßt sich auch auf andere Lebensbereiche oder gesundheitliche Bereiche übertragen.
Lieber Frank, ja, absolut. Er lässt sich auf sehr viele Lebensbereiche übertragen, ich nehme Sichtverlust exemplarisch bei der SEHHELDIN. Herzlich, Anne