April 2017. Der Augenarzt murmelt, während er die Befunde in den Computer eingibt: „Links haben Sie eine myopische Makuladegeneration. Sie werden ja gemerkt haben, dass Sie in der Mitte nur einen grauen Fleck sehen.“ (Nein, nicht wirklich. Ich bin nur häufiger irgendwo reingerannt.) „Ach ja, der Visus ist jetzt nicht mehr 0,7 sondern 0,1.“

Tschüss. Schönen Tag noch.

Genau so lapidar. „Sie haben myopische Makuladegeneration“ klingt nicht anders aus dem Mund dieses fühlbar gestressten Augenarztes als „Sie müssen leider noch eine Stunde warten.“ Es klingt so lapidar, dass lange nicht in meinem Herzen ankommt, dass meine Augen jetzt noch ganz anders meinen Tag, mein Leben beeinflussen.

Er sieht mich nicht. Ich sehe mich nicht.

Was runtergespielt wird, bleibt unsichtbar

Bisher hatte ich noch “nichts“. Verrückt. Extrem hohe Kurzsichtigkeit wird heruntergespielt. „Brille auf und durch.“ So lange du noch Visus 1 hast und doch schlechte Augen, dann wirst du oft nicht gesehen, völlig egal, was deine Augenkrankheit ist. Was, noch nicht sehbehindert? Na, dann freue dich doch, höre ich regelmäßig und lese es in Onlineforen. Nicht der Rede wert, das ist die Botschaft, die ankommt.

Noch so ein Beispiel: Ich hatte als Sekundärerkrankung meiner Myopie komplizierte Staroperationen mit Anfang 30. Das ist ziemlich besonders und war bei mir keine schnelle, einfache Sache.
Ist damals oder später bis zu meinem Herzen durchgedrungen, dass mir da etwas widerfährt, was beträchtlich jenseits von „normal“ ist? Nicht wirklich. Ist zu mir durchgedrungen, dass ich mich neben meinen Augen auch um meine Gefühle kümmern könnte? Absolut nicht.

Ich bin sicher, das, was ich erlebt habe, kennen auch andere mit anderen Augenerkrankungen: Wenn es nicht gefährlich oder akut ist, wenn du nicht sehbehindert bist, dann bist du einfach Susanne oder Annette oder Stefan, mit den nicht so tollen Augen. Die gehören dann dazu, wie Beine oder Ohren.

Wenn du nicht gesehen wirst siehst du dich selbst auch nicht. Und das hat hier mal gar nichts mit der verschwommenen Sicht zu tun 😉

Ok, nun habe ich also noch eine myopische Makuladegeneration. Ich weiß noch nicht mal genau, was das ist. Die Erklärung fällt spärlich aus. (Damals habe ich noch nicht nachgebohrt, das habe ich erst danach gelernt). Mit halbem Blick, gestresst und sachlich kam die Diagnose daher: Wie soll ich dann ernstnehmen, was dies für mich bedeutet?

Meine Mutter kommt an diesem Tag – zufällig, ein lang geplanter Besuch.

Wir schimpfen über den Augenarzt und seine fehlende Empathie, über die schlechte Kommunikation. Heute weiß ich:

Es ist so viel einfacher über den Arzt und seine fehlende Empathie wütend zu sein, als die eigene Traurigkeit wirklich wahrzunehmen. Als zu fühlen, wie wenig normal diese Augen sind und noch nie waren. Zu fühlen, was dies für mich bedeutet. Wie schwer es wirklich ist. Wieviel sie mir abverlangen und wie viel ich ihnen abverlange. Täglich. Stündlich. Minütlich. Sekündlich.

Es ist so viel einfacher über den Arzt und seine fehlende Empathie wütend zu sein, als die eigenen Gefühle wahrzunehmen.

Anne Niesen | SEHHELDIN

Verdrängung, weil es ja nicht besonders ist

Vollständige Verdrängung, weil nicht gesehen werden kann, was nicht besonders ist.

Mein Freund ist in dem Moment mein Gradmesser: Er findet überhaupt nichts normal. Im Gegenteil. Er ist wütend über den Augenarzt und traurig für mich. Fassungslos. Nein, es ist nicht normal. Bei mir nicht, bei dir nicht. (Egal, welche Augenerkrankung du hast)

Mein Kopf weiß, dass es nicht normal ist. Aber es ist irgendwie schon so eingeübt dieses Spiel, das so gar keines ist: Kontrolltermin beim Augenarzt, wieder etwas schlechter, aber hey, der Visus ist doch noch prima. Dann einfach mal weitermachen.


Die Traurigkeit über das, was nicht ausgesprochen, beweint oder besprochen wird, ist da in mir, schon immer. Sie hat keinen Kanal, sie ist einfach, irgendwo, weggedrückt. Es ist, was es ist, oder? „Freue dich, du hast doch noch einen guten Visus.“

Heute weiß ich: Wenn dir niemand spiegelt, dass dir gerade etwas widerfährt, dann glaubst du es nicht. Dann sind deine schlechten Augen im Positiven wie im Negativen „normal“.

Dann verbuddelst du deine Gefühle und lebst gleichzeitig über deine physischen Leistungsgrenzen hinweg. Täglich.

Wenn wir unsere schlechten Augen für irgendwie normal halten, verdrängen wir unsere Gefühle und passen wir unser Leben nicht an unsere Augen an.
Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir täglich über unsere physische Augengrenze leben. Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass wir unsere Gefühle nicht wahrnehmen.

Dann sind unsere Augen nicht wirklich Teil von uns, sondern ungeliebtes Anhängsel. Mit Folgen für uns und unser Glück.

Anne Niesen / SEHHELDIN

Sieh dich.

Sieh dich. Lass dir nicht einreden, dass du erst dann „etwas hast“, wenn du sehbehindert bist. Schlechte Augen sind nie nichts. Das weiß ich jetzt und hätte es so gerne früher gewusst. Ich hätte es gerne verstanden, damals als mein Leben sich oft wie ein Kampf anfühlte – und ich nicht wusste, warum.

Sieh dich mit deinen irgendwie undefiniert schlechten Augen, in diesem Niemandsland zwischen normalsichtig und sehbehindert.

Es geht nicht darum, ständig um die eigene Sicht zu kreisen. Es geht darum, dass du dir nicht ständig vormachst, dass „nichts ist.“ Es ist NICHT lapidar, schlechte Augen zu haben. Sie haben einen Einfluss auf deinen Tag, auf deine Arbeit, deine Energie, dein Leben.

Du kannst unsichtbar bleiben – auch für dich selbst. Oder jetzt anfangen, dich zu sehen. Denn deine Augen sind Teil von dir. Siehst du sie, siehst du dich, so einfach ist das (im Prinzip).

Was hat dir geholfen, dir bewusst zu werden, dass „irgendwie schlecht sehen“ nicht lapidar ist? Dass es dir hilft, deine Augen mitzudenken in deinem Beruf und deinem gesamten Leben?


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(Für dich vollständig überarbeitet am 2.06.2021.)

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