Ich berichte exemplarisch von einer Erfahrung in der Augenabteilung eines Krankenhauses. Ich habe lange gezögert, weil ich kein „Krankenhausbashing“ betreiben will und weil es natürlich auch andere Erfahrungen gibt. Tatsächlich habe ich es so oder so ähnlich mehr als einmal erlebt. Und teilweise noch sehr viel krasser, so dass es mich noch Tage begleitete. Ich verstehe, warum das in stressigem Alltag so passieren kann. 10 Minuten-Takt, Patientin Nr 10 und schon 45 Minuten über der Zeit. Ich möchte Brücken bauen und nicht einreißen. Weil ich fest überzeugt davon bin, dass alle davon profitieren.

Deswegen folgen nach meiner Schilderung Ideen für beide Seiten: Für die medizinischen Expertinnen und für uns Patientinnen.

Erfahrungsbericht Augenklinik (Perimetertest)

Mittwoch Morgen in der Augenklinik. Ich werde zur nächsten Untersuchung aufgerufen: Gesichtsfelduntersuchung steht auf dem Programm. Das erklärt mir jedoch niemand. Auf dem Zettel steht lediglich „Octopus“. In der Ecke steht der Perimeter. Wir zwei sind gute alte Bekannte. Das weiß die Untersuchende jedoch nicht. Ich bin zum ersten Mal hier.

Mir wird schon etwas übel in der Magengegend, wenn ich nur diese eigentlich freundlich wirkende weiße Halbkugel sehe. Ich weiß, mir steht eine physisch und psychisch anstrengende Untersuchung bevor. Eine, die mir hinterher schwarz auf weiß zeigen wird, was ich schon länger fühle: Noch weniger Sehen im Randbereich. 5 Minuten Hochleistungssport für jedes Auge. Ach ja, meine Begleitung, deren Anwesenheit mir unendlich gut tun würde, darf nicht mit in den Untersuchungsraum. Warum, das wird mir auch auf Nachfrage nicht erklärt.

Ich erhalte keinerlei Erklärung. Noch nicht einmal, worum es geht. Wieso ich da jetzt Platz nehmen soll. Nichts. Ich bekomme stattdessen kurze Handlungsanweisungen:

 „Setzen Sie sich bitte hier auf den Stuhl. Jetzt klebe ich Ihnen erst Ihr rechtes Auge ab. Ihr Kinn legen Sie hier drauf. Jedes Mal, wenn Sie einen Lichtpunkt sehen, drücken Sie auf diesen Knopf.“ (Sie drückt mir ein Art Schalterknopf an einer Schnur in die Hand).

Ich starre geradeaus in das dunkle Halbrund des Perimeters.

Perimetrie mit Makuladegeneration

Mein linkes Auge bekommt die Startposition. Das rechte Auge wird abgedeckt. „Fixieren Sie den grünen Punkt in der Mitte.“

Es geht los. Ich muss schlucken. Denn eines wird ganz deutlich im Halbdunkel dieses Perimeters: Ich habe myopische Makuladegeneration links. Das heißt konkret, dass ich von dem grünen Punkt ab und an mal ein kleines Stück sehe, oft jedoch nichts. Ich schlucke. Mein Magen zittert. Krass, wie er hier deutlich wird, dieser graue Fleck in der Mitte.

Mein Auge tut, was es gelernt hat, zu tun: Es bewegt sich, um noch ein kleines Zipfelchen grüner Punkt zu erhaschen.

Jetzt wieder eine kurzangebundene Handlungsanweisung: „Schauen Sie auf den Punkt, nicht drüber.“

Ich werde wütend. Ist Einfühlungsvermögen kein Teil der Ausbildung? „Ich tue mein Bestes, das ist aber ganz schön frustrierend bei meiner Makuladegeneration! Schaue ich so in die richtige Richtung?“, frage ich und klinge irgendwo zwischen brav und verzweifelt.

Nach außen bin ich halbwegs gelassen, innen krampft der Magen und die Tränen steigen hoch. Das ist die dritte Untersuchung an diesem Tag. Die Nerven liegen blank. Ich bin angestrengt.

Ich will rufen: Schaut ihr denn nicht in euer System? Oder denkt ihr nach der 30. Messung des Tages einfach nicht mehr drüber nach? Für euch ist dies vielleicht Routine, ich habe hier seit Tagen Angst vor.

Die Anne, die immer fair sein will, denkt gleichzeitig: Manchmal ist es ja auch anders. Und die erste war doch echt nett. Super Methode, um mich selbst weg zu negieren…

Emotionale und physische Schwerarbeit

Sie wiederholt: „ Drücken Sie immer dann auf den Knopf, wenn Sie einen Lichtpunkt sehen.“ Ich fühle mich schlecht. Ab und zu taucht schwach am Rand ein Lichtpunkt auf. Dann drücke ich schnell und fühle mich erleichtert und traurig zu gleich. Da ist noch was zu sehen, grandios. Mehr Punkte sehen wäre natürlich noch schöner. „Können Sie noch?“ fragt sie nach einer Weile. Und wenn nicht?, denke ich, „habe ich eine Wahl?“. Mein Kopf schwirrt, mein Auge schmerzt, mein Magen krampft. Das hier ist körperlich und emotional Schwerstarbeit. „Klar, es geht noch“, sage ich.

Plötzlich hält die Frau das Gerät an und steht ohne eine Erklärung auf. Ich sitze im dunklen Raum und warte. Sie kommt mit einer Kollegin zurück. Wer ist diese Frau? Ich bekomme auch sie nicht vorgestellt. Sie unterhalten sich murmelnd. Keine Erklärung in meine Richtung. Sie stellen etwas neu ein.

Was ist los? Was bedeutet das? Warum erklärt niemand etwas?

Ich frage: „Was passiert gerade?“ „Wir mussten etwas besprechen.“ Diese Antwort nimmt mir jetzt auch nicht ein einziges meiner Fragezeichen.

Endlich ein Lichtpunkt (Schummeln funktioniert nicht)

Jetzt das rechte Auge. Mein gutes Auge (relativ gesehen). Mein Magen entspannt sich etwas. Zu früh. Etwas stimmt nicht. Vielleicht haben sie etwas falsch eingestellt? Warum kann ich so wenig drücken? Ich erwische mich dabei, dass ich drücke, auch wenn ich nichts sehe. Wen will ich hier überzeugen? Das Gerät merkt sofort, wenn ich schummele, schwarz auf weiß sind Fehlversuche nachzulesen.

Sie sagt: „Drücken Sie jedes Mal, wenn Sie einen Punkt sehen.“ Ja, klar. Weiß ich ja. Warum wiederholt sie es? Was bedeutet das? Was sehe ich alles nicht? Es dauert viel zu lange zwischen den einzelnen Punkten. Ich weiß, ich müsste viel mehr sehen. Ich starre und starre. Viel zu selten kann ich drücken. Hier, ein Lichtpunkt, ja! Endlich! Ich fühle mich wie ein Schulkind, das seine Aufgabe gut erledigt hat. Die Prozedur scheint endlos zu dauern.

Ich habe Angst. Zwei Menschen sind mit mir im Raum und ich fühle mich sehr, sehr allein. (Warum dürfen Begleitpersonen nicht neben mir sitzen, meine Hand halten oder einfach da sein?)

Es scheint endlos zu dauern. Von außen gesehen sieht es harmlos aus: Abgedunkeltes Zimmer. Ein bisschen Apperatur. Eine Frau sitzt etwas krumm auf einem Hocker, das Kinn auf einer weißen Kinnstütze und schaut in eine dunkle Halbkugel. Gemütlich fast.

Für mich sind es 10? 20? 1000? Minuten, die nicht zu Ende gehen. Danach schmerzen meine Augen und ich bin emotional ausgelaugt und erschöpft.

Kurzer Händedruck und ich stehe draußen. Erschlagen. Ohnmächtig. Mit Fragezeichen. Traurigkeit, Angst und Wut im Bauch.


Für MTAs, Augenärzte und andere medizinische Expertinnen:

6 unkomplizierte Ideen, die einen großen Unterschied machen

Diese leicht umsetzbaren, fast unscheinbaren Ideen, würden mein Patientin-Leben so viel einfacher machen. Und ich vermute mal, deines auch. Was sagst du? Denn die gesamte Atmosphäre wird sich ändern. Ich werde immer noch traurig und angestrengt sein, dich aber anlächeln und mich bedanken. Versprochen!

  1. Du denkst mit. Du weißt zum Beispiel, dass es ab der Tür für mich schwierig wird. Vom Licht draußen ins Halbdunkel der Untersuchungskammer. Manchmal sehe ich, wo ich meine Tasche ablegen kann und meine Jacke aufhängen, manchmal nicht. Ein kurzer Hinweis hilft – auch meiner Seele: „Hier ist es ganz schön dunkel. Hier links ist der Kleiderhaken. Soll ich Ihre Jacke kurz aufhängen?“
  2. Kurzes Check-In: „DAS passiert hier jetzt. Kennen Sie sich aus oder kann ich noch kurz etwas zum Perimeter erklären?“
  3. Empathie zeigen: „Ich weiß, das ist eine sehr anstrengende Untersuchung, für Ihre Augen und für Sie. Es kann auch ganz schön konfrontierend sein.“ Mehr braucht es meist nicht, wenn der Ton empathisch klingt.
  4. „Ich weiß, dass Sie aufgrund Ihrer myopischen Makuladegeneration den Punkt nicht oder nur in kleinen Teilen erkennen können. Wenn Sie Ihren Kopf genau so wie jetzt halten, fixiert ihr Auge genau die Mitte. Dies ist wichtig für ein präzises Messergebnis.“. Geäußert in einem Ton, der auch nach der 30. Untersuchung mich als Mensch wahrnimmt.
  5. Kurz aufklären über „Störungen“. Je nach Patientin passt dann eine andere Verpackung. Von „Ich möchte da kurz etwas mit meiner Kollegin besprechen, es geht gleich weiter“ bis „Aus diesem Grund möchte ich…“.
  6. Wenn es irgend geht: Lasst Begleitung mitkommen, auch dann, wenn sie nicht „als Begleitung nötig sind.“ (Als nötig wird in meinem Krankenhaus definiert, dass ich physisch Unterstützung brauche)

Beim Augenarzt: Fragen bleiben unbeantwortet

Zum Abschluss geht’s zum Augenarzt. „Sie haben Glück“, erklärt er, „der Visus ihres rechten Auges ist fast unverändert.“ Das ist natürlich grundsätzlich eine gute Nachricht, aber um meinen Visus geht es mir nicht. Das weiß ich schon. Ich gucke da ja jeden Tag mit.

Was ist mit der Gesichtsfelduntersuchung? Wie steht es mit meinem Gesichtsfeld? Wurde gemessen, was ich fühle? Wurde gemessen, was mich Autos und Fahrradfahrer übersehen lässt? Warum so wenige Lichtpunkte für mich?

Seine Antwort bleibt vage, auch bei Nachfragen. Noch schlimmer: Er klingt genervt oder gestresst oder überfordert. Ich fühle mich nicht eingeladen, weiter zu fragen.

Vor der Tür wird mir bewusst, dass keine meiner Fragen wirklich beantwortet wurde. Das Untersuchungsergebnis habe ich aus der Ferne auf einem Bildschirm kurz gesehen. Mehr nicht. Eher zufällig. Genaue Erklärung dessen, was dort zu sehen ist? Fehlanzeige. Zu angestrengt und traurig war ich, keine Kraft mehr, um nachzusetzen.


So nicht!: Mündige Patientin sein

  • Wieder erholt, fordere ich im Krankenhaus die Untersuchungsergebnisse der Perimetrie an.
  • Dann recherchiere ich online, um besser zu verstehen, was ich dort sehe. (Nein, ich finde nicht, dass dies alleine Aufgabe der Patientin sein sollte).
  • Ich frage andere informierte hochgradig Kurzsichtige.
  • Ich schreibe eine Email, in der ich freundlich von meinen Erfahrungen berichte. (Diese bleibt unbeantwortet und es fühlt sich doch gut an)
  • Damals suche ich mir sogar eine neue Augenärztin, weil dies nur eine einer Reihe von schlechter Erfahrungen war mit dem letzten.

Für Patient*innen: 5 Tipps für die nächste Untersuchung – damit etwas leichter wird, was schon so schwer genug ist

  1. Informiere dich im Vorfeld darüber, welche Untersuchungen anstehen. Ich bin überzeugt: Als mündige, informierte Patientin fühlst du dich dem Ganzen weniger ausgeliefert.
  2. Frage selbstbewusst nach einer Erklärung. Wenn du die erste nicht verstehst, frage nochmal. Auch dann, wenn sie dir nicht freudig gegeben wird!
  3. Erbitte höflich Hilfe: „Ich sehe hier gerade schlecht. Könnten Sie mir mit meiner Jacke helfen?“ Das ist praktisch und du fühlst dich stärker, weil du handelst.
  4. Erbitte dir höflich eine andere Kommunikation, wenn dich etwas verletzt.
  5. Bedanke dich von Herzen, wenn empathisch, hilfreich und verständlich kommuniziert wird.

Seitdem ich es so tue, merke ich, dass Dinge anders laufen. Und vor Allem: Ich fühle mich 100 x besser im Schlechten. Klar, bei 3-5 Stationen pro Untersuchungstag läuft es mal besser, mal schlechter. Mal treffe ich auf empathische Menschen, mal auf Technik-Nerds, die die Maschine interessanter finden als mich. Mal treffe ich auf Menschen, die mich als Menschen sehen, mal auf welche, die das mich zumindest nicht merken lassen.

Zusatztipp: Kämpfe darum, deine Begleitung mitkommen zu lassen, wenn du eine hast und dir das wichtig ist. Mir gelingt es fast immer, sie mit „einzuladen“, wenn ich erkläre, warum.

Brücken bauen konkret

Liebe Ärzt*innen, MTAs, Ophtalmolog*innen: Ich möchte so gerne eure Sicht der Dinge hören. Verstehen, was eure Situation ist. Ob meine Ideen naiv sind oder ganz unkompliziert, wenn sie einmal bewusst sind. Schreibt mir an: hallo@sehheldin.eu. Ich freue mich drauf!

PS: Diesen Artikel habe ich Anfang 2023 völlig überarbeitet. Das hat zur Folge, dass nicht alle Kommentare mehr zum aktuellen Text passen. Das macht sie nicht minder interessant und lesenswert!

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