Dieser Text ist für dich, wenn
- dein Leben zwar völlig verändert wird durch eine chronische Krankheit oder Augenerkrankung (oder durch etwas Anderes, was bleibt und auf das du keinen Einfluss hast) – du aber wenig starke Gefühle kennst
- du merkst, dass du die Neigung hast, das, was du als „negativ“ empfindest kleinzureden und kleinzudenken („Geht schon.“ „Ich habe wirklich noch ein schönes Leben“ „Meine Familie ist toll.“)
- die Aussagen oben passen für dich und du trotzdem denkst, dieser Artikel hat nichts mit dir zu tun. Dann lies unbedingt weiter, denn dann hat es wahrscheinlich sehr viel mit dir zu tun
„Sieh dich!“ rufe ich immer wieder ins Leere. So sehr sind Krankheit, Verluste und „Schweres“ ein Tabu, dass du vielleicht nicht verstehst, warum ich so beharrlich dazu auffordere. Denn du kannst nur sehen, was du zu sehen gelernt hast.
Willst du dich besser sehen als bisher? Liebevoller mit dir umgehen? Dabei so nebenher anders mit gesellschaftlichen Tabus umgehen? Mehr Leben spüren im Leben? Dann ist mein Artikel für dich.
(Du willst den Artikel von mir vorgelesen als Audiodatei erhalten? Dann schreibe mir eine Email an hallo@sehheldin.eu)
„Wie geht es dir denn?“ „Ich bin vor einigen Monaten mit Hashimoto diagnostiziert worden“, sagt die Frau. „Ach, ist schon ok, das ist mit Medikamenten gut einstellbar. Ich bin wirklich täglich dankbar.“ Die braungebrannte Camperin sagt dies äußerlich strahlend während eines Reiseprogrammes.
Ich höre den Schmerz hinter diesen Worten. Kleingeredet. Weggedrückt.
„Ich komme klar mit meiner neuen Situation. Mein Arbeitgeber ist mir entgegengekommen. Die neue Stelle ist weniger spannend, aber finanziell ist es fair. Da kann ich froh sein.“ Das schreibt mir ein Projektleiter, dessen Arzt ihm deutlich gemacht hat, dass er dringend kürzer treten muss. Es geht nicht um irgendeine Stelle, es geht um seinen Traumjob in seinem Traumunternehmen.
Ich höre den Schmerz hinter diesen Worten. Ungefühlt. Ungesehen.
„Ach, ist ich sehe doch noch. Es gibt auch tolle Hilfsmittel mittlerweile! Und meine Ärztin sagt, dass ich noch Glück habe.“, sagt sie mit Leichtigkeit in der Stimme.
Ich höre den Schmerz hinter diesen Worten. Ungefühlt. Ungesehen.
Unsere Gesellschaft belohnt, was deinem Lebensglück im Weg steht oder Sprich bitte nicht über schwere Gefühle
Die Gesellschaft erwartet, dass wir Schmerz schnell überwinden und Verluste akzeptieren. Es ist ok, dass wir mal kurz traurig sind Danach sollen wir uns da durcharbeiten und dann wieder fröhlich in Richtung Zukunft schauen. Positiv, natürlich. „Mach das Beste draus, schau nach Vorne!“ lautet die Devise.
Je mehr wir dies genauso leben, je mehr positives Feedback erhalten wir: „Toll, wie du mit deiner Situation umgehst.“ oder „Du bist so stark und so positiv.“
Vielleicht hörst du dies seit frühen Kindheitstagen. Gespeichert hast du: Traurig sein, über deine Gefühle reden, das ist falsch, das ist schwach, damit belaste ich die anderen. Damit schließe ich mich aus aus der Gemeinschaft. Das sitzt tief, so tief, dass du aufhörst, sie zu fühlen, die vermeintlich negativen Gefühle. Lektion gelernt.
Und dabei erleiden wir einen unserer grössten Verluste: Nämlich wir können nicht mehr fühlen, was so natürlich ist: Tiefe Traurigkeit als Reaktion auf all das, was nicht (mehr) möglich ist. Für die es keinen echten Trost gibt. Auf das, was anders ist als geträumt, was unser Leben unwiderruflich verändert, was unseren Platz in der Welt mit einem Fragezeichen versieht. Undwiederbringbar verloren.
Wenn deine schweren Gefühle keinen Raum haben, verlierst du auch den Zugang zu echter Freude
„Du kannst keinen Verlust in dein Leben integrieren, ohne Schmerz zu erfahren. Alles, was du tust, um Schmerz wegzudrücken, verhindert deinen Trauerprozess. Dann fühlst du keine Trauer mehr, aber auch keine echte Freude. Alle Gefühle sind gedämpft.“
Prof. Dr. Manu Keirse, klinischer Psychologe und Experte für Verlust und Trauer
Die Menschen, die ich oben zitiert habe, glauben ihren eigenen Worten, weil sie es so gelernt haben, weil sie überzeugt sind,, dass sie Leben eben so anfühlt. „Mir geht es gut, ich habe auch so ein schönes Leben!“. „Ich habe mich daran gewöhnt, es ist ok so.“
Das kann beides absolut wahr sein. Doch was bleibt unausgesprochen? Was wird verdrängt?
Ja, du trauerst! Auch wenn du das selbst vielleicht noch nicht weißt
Lange Zeit dachte ich, das Thema Trauer habe nichts mit mir zu tun, selbst Traurigkeit kannte ich nicht wirklich – und ehrlich gesagt, übe ich immer noch, sie zuzulassen und zu fühlen. Ich habe nie in einer Ecke gesessen und hemmungslos geweint. Ich habe immer nach Lösungen gesucht. Meine Fassade war so gut, dass auch (unfähige) Therapeutinnen mich nach Hause schickten mit dem Satz: „Du hast doch nicht wirklich Probleme mit deiner Augenerkrankung. Du machst das doch gut.“ Das Tabu sitzt tief. Toxic positivity nenne ich das.
Erst als 2018 meine psychosomatischen Symptome so massiv sind, dass ich nicht mehr an ihnen vorbeihören kann, gehe ich auf Forschungsreise und verstehe: Was du nicht gelernt hast zu fühlen, fühlst du auch nicht. Was nicht da sein durfte, zeigt sich dann anders in deinem Körper und deiner Seele, verschleiert, verkleidet. „Dann fühlst du keine echte Trauer mehr, aber auch keine echte Freude. Alle Gefühle sind gedämpft.“ Überlebensmodus, ohne es zu merken, das eigene Normal. Funktionierend, unauffällig für die Umgebung.
Mein Körper trägt die unterdrückte, nicht gesehene Trauer in sich, seit vielen vielen Jahren oder besser: Seit immer. Jetzt wehrt er sich. Unter Anderem bekomme ich während eines Spazierganges eine Art Blackout, falle ungebremst und zerschmettere mir den Ellbogen.
Aha-Erlebnis: Sichtbares Drama bekommt Aufmerksamkeit
Das ist 2020. Ein absoluter Trümmerbruch, mein sehr engagierter Chirurg war fasziniert. Heftige Schmerzen, sehr heftige. Vier Operationen waren nötig, um das Beste herauszuholen, was toll ist und doch nicht mehr der alte Arm.
Und dann: Es klingelt an der Tür, mir wird ein Strauß Blumen geliefert. Eine Geste von meiner Krankenversicherung (!). „Für besondere Fälle, die etwas Aufmunterung gebrauchen können, haben wir ein Budget“, sagt die Dame am Telefon mit Wärme in ihrer Stimme.
Diese Blumen waren mehr als ein Geschenk, sie waren ein Zeichen: „Wir sehen deinen Schmerz. Es ist schlimm. Unser Mitgefühl.“ Eine Anerkennung meines Leids, heilend und erleichternd. Und für mich, die ewige Kämpferin, auch eine Art Erlaubnis zu fühlen.
Dieses Erlebnis macht mir eine Sache sehr deutlich: So unendlich viele Verluste bekommen nie echte Aufmerksamkeit – zu wenig fassbar, zu wenig nachvollziehbar von Außen, zu wenig Drama. Und noch dazu: Nicht heilbar, keine echte Lösung vorhanden.
Wenn diese Verluste als Folge von einer (Augen-) Erkrankung dann noch Teil von dir sind, immer da und Begleitmusik deines Lebens dann verschwinden sie aus dem Bewusstsein, so wie früher die Vokabelzettel an der Wand. (falls du weißt, wovon ich rede ;).
Unbewusst im Überlebensmodus: Viele Menschen wissen nicht, dass sie verdrängen
Ich höre ihn so oft, diesen unausgesprochenen, ungefühlten Schmerz. Ich fühle sie so oft, die gedämpfte Lebensfreude. Ich sehe sie oft, diese geübten Fassaden der vermeintlich Starken, der Kämpfer*innen, die unbewusst im Überlebensmodus sind.
Ungesehen. Ungehört.
Viele Menschen wissen nicht, dass sie im Überlebensmodus sind. Genau wie ich das viele Jahre nicht wusste und auch heute oft erst zu spät merke. Weisst du es? Ist dein normal vielleicht gar nicht so normal, sondern weggedrückte Trauer und Schmerz, dein Überlebensmodus?
Wenn die Welt dich nicht sieht mit deinem Schmerz und deinen Verlusten, wie sollst du das dann lernen für dich?
Wenn die Welt dich nur lobt, für deine Stärke und dafür, dass du nie aufgibst und nie dafür, dass du den Mut hast, deinen Schmerz zu sehen, wie sollst du deine Tränen weinen können?Unsere Schmerz ist oft unsichtbar, selbst für uns. Wir haben so sehr gelernt, unsere Gefühle wegzudrücken und zu rationalisieren, dass wir sie selbst kaum noch fühlen können.
Anne Niesen | SEHHELDIN
Das Gefühl, endlich gesehen zu werden oder die Kraft von Mitgefühl
Es ist nun schon bestimmt drei Jahre her und ich erinnere es immer noch: Ein älterer Herr, dem ich nur in einigen dürren Worten erzählt hatte, warum ich meinen alten Beruf nicht mehr ausübe, schaut mich mit sehr viel Mitgefühl an und sagt mit Wärme in seiner Stimme: „Das scheint mir wirklich schwer. Es tut mir leid, dass du so viel Schweres auf den Weg bekommen hast.“ Er wusste fast nichts von mir. Er sah mich. Ich weine zwei Tage durch. Endlich. (Um mich dann ganz schnell wieder abzuschließen, aber der Anfang ist gemacht).
Die Vergleichsfalle
Was Verluste sind, was Leid ist, das bestimmst du!
Der Projektleiter vom Anfang hatte immer noch einen guten Job in einem guten Unternehmen. Kein Recht, traurig zu sein also? Das ist, was seine Umgebung ihm versuchte, deutlich zu machen und das ist, was er sich selbst einredete.
Schwarz-Weiß, Entweder-Oder, wie ungesund das ist. Vielleicht ist es besser, als das auch nicht mehr zu haben, vielleicht ist es mit unendlichem Erfolgsstress verbunden, das wissen wir von Außen nicht. Deutlich ist: Es ist eben absolut nicht, was er so gern wollte, wofür er sich so lange eingesetzt hat, was ihn erfüllte. „Und weißt du, was das Schlimmste ist?“, sagte er während unseres gemeinsamen Prozesses, „dass ich das nie mehr sein werde, im besten Fall, bleibt es das, was es ist, aber selbst das ist unwahrscheinlich. Und nirgendwo darf ich das aussprechen, ich bekomme dann zu hören, dass ich es doch noch gut getroffen habe, dass ich dankbar sein kann. Andere in deiner Situation sitzen ganz alleine da, höre ich ständig. Ich habe mich so angestrengt, um dankbar zu sein und mich zu fügen in meine neue Lebenssituation. So sehr angestrengt.“
Ich hörte Tränen in seiner Stimme. Endlich. Der erste Schritt ist getan, die fest verschlossene Tür geöffnet, einen kleinen Spalt.
Lesetipp: Schau doch auf das, was noch möglich ist (für das „und“ im Leben)
Fast zu offensichtlich und doch will ich auch das rufen:
Nur, weil es bei einem anderem Menschen scheinbar noch schlimmer ist, heißt das nicht, dass dein eigenes Leid unwichtig ist und nicht zählt.
Es geht immer noch schlimmer! Und außerdem: Wer bestimmt, was schlimm ist?
Wenn du nie gerne gereist bist, ist es kein einschneider Verlust, wenn du das nicht mehr kannst. Wenn dir dein Beruf nie so wichtig war, sondern du hauptsächlich gearbeitet hast, um zu leben, dann ist das oben vielleicht eine gute Lösung.
Du bestimmst, was schlimm ist!
Sei mutig und sieh deinen Schmerz
„Du kannst keinen Verlust in dein Leben integrieren, ohne Schmerz zu erfahren.“ (Manu Keirse).
Und das kostet ganz schön viel Mut. Denn wir Menschen wollen ganz viel, aber auf die Suche nach Schmerz gehen, mehr Leid fühlen? Nein, das steht bestimmt nicht auf unserer inneren Wunschliste. Im Gegenteil: Unser natürlicher Impuls ist es, dem aus dem Weg zu gehen. Davor haben wir Angst, Angst, die so tief sitzt, dass wir sie vermutlich auch nicht mehr wirklich fühlen. Darüber liegt eine dicke, sehr dicke Schicht von Hornhaut, Glaubenssätzen, Überzeugungen und Tabus. Der Preis sind gedämpfte Gefühle getarnt als Normalität.
Das kostet dich etwas ungeheuer Wertvolles: Deine Lebendigkeit und echtes Leben.
„Sieh dich!“ rufe ich daher weiter mit Wärme und Mitgefühl und voller Überzeugung. Sei mutig, überwinde deine Angst und traue dich, den gesellschaftlichen Tabus und Normen deinen Lebenssinn entgegenzusetzen. Fange an, setze den ersten kleinen Schritt. Habe Mut – für dein Leben!
Ich sehe dich. Ich höre dir zu. Ich biete einen Raum – ohne Tabus, ohne Urteil, ohne Erwartungen und mit geübtem Blick für deine blinden Flecken. Du willst mutig sein? Dann schreibe mir eine Email und wir finden heraus, ob wir gut zusammen arbeiten können. hallo@sehheldin.eu
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Bei der Suche im Internet, um die Diagnosen meines Augenarztes verstehen zu können, bin ich unter „Myopia….“ auf Deine Beiträge gestoßen. Ich habe übrigens nur für das linke Auge minus 6.00 bekommen und während ich das dachte und jetzt Dir schreibe, musste ich weinen, weil ich merkte, dass ich Angst habe, das ich nicht weiß, wie ich mich entscheiden soll, OP Katarakt oder nicht, stärkere Kontaktlinsen, doch eine neue Brille… Ich werde es schon schaffen, die richtige Entscheidung zu treffen, aber Du hast recht. Wir sollten uns auch unserer Angst stellen (jetzt heule ich schon wieder). Vielen Dank.
Hallo Doris, schön, dass du mir schreibst. Das ist der erste Schritt. Wohin? Dich aktiv zu entscheiden, etwas für dich zu tun. Denn da steht die SEHHELDIN für. Zu gestalten, Entscheidungen für sich zu treffen. Solche Entscheidungen brauchen immer neben guten Informationen auch viel Mut. Denn niemand kann dir etwas garantieren. Ich begleite in solchen Entscheidungssituationen als Coach. Oder auch, auf dem Weg, dass du herausfindest, warum du weinen musst. Vielleicht ist es ja gar keine Angst, sondern dein Bedürfnis gesehen zu werden? Wenn du für dich etwas verändern möchtest und einen Coach bezahlen möchtest, melde dich bei mir. Alles Gute, Anne
Liebe Anne,
vielen Dank, dass du mir in der Facebook Gruppe „Chronisch Krank – ich leb damit“ deine Seite empfohlen hast. 🙂
Dieser Artikel hat mich sehr berührt und auch den „Nagel auf den Kopf getroffen“
Ich zitiere einen Satz aus deinem Artikel, der genau beschreibt, was ich fühle:
„Wenn die Welt dich nicht sieht mit deinem Schmerz und deinen Verlusten, wie sollst du das dann lernen für dich?“
Genau so ist es, ich fühle mich unsichtbar mit meinem Schmerz, meinen Krankheiten und Gefühlen! Ich lernte nur stark zu sein und höre immer: „Denk positiv, es gibt ja noch viel schlimmere Schicksale“ Das hilft mir gar nicht weiter, im Gegenteil, dann bekomme ich Schuldgefühle, weil es ja anderen noch schlechter geht ….
Du hast völlig recht, wie auch Susanne im vorigen Kommentar, wir brauchen wirklich den Mut, uns zu sehen und gesehen zu werden. Ich muss meine Gefühle der Trauer nicht wegdrücken und immer stark sein…
Als ich deinen Artikel zu Ende gelesen habe, musste ich heulen, was mir gut getan hat. Auch fühle ich mich zum ersten mal seit langer Zeit verstanden.
Danke und alles Liebe!
Sylvia aus Tirol
Liebe Sylvia, dein Kommentar macht mich sehr glücklich. Ich denke, du merkst, wie viel Liebe, Wissen und Arbeit in meinem Artikel steckt. Weil ich möchte, dass Menschen sich gesehen fühlen, um sich selbst sehen zu können. Wenn du weinen musstest, dann bin ich wirklich nicht glücklich über die Gründe dafür. Jedoch glücklich, dass du dich so hast berühren lassen, das etwas sich öffnen konnte. Ja, ich sehe dich. Bleibe mutig und gehe deine ganz eigenen Schritte, Anne
Danke liebe Anne, du schaffst es wirklich Menschen mit Worten aufzubauen.
Liebe Grüße
Sylvia
Liebe Anne,
ein berührender Post, der mir aus dem Herzen spricht.
Das ist der Mut, den wir brauchen – Mut, uns selbst zu sehen, Mut, gesehen zu werden, Mut, uns unseren Gefühlen zu stellen. Allen Gefühlen, auch der Trauer und der Angst.
Liebe Grüße
Susanne
Liebe Susanne, ich freue mich, dass du dich berühren lässt. Denn daraus kann alles entstehen. Ich habe nach deinem Kommentar noch etwas hinzugefügt zum Mut. Das Mitgefühl. Denn auch dies ist nötig, um uns zu sehen. Mitgefühl mit dir selbst. Bleibe fühlend, Anne