Sieh dich! schreibe ich häufig. Und rufe meist ins Leere. So sehr sind Krankheit, Schmerzen und „Schwierigkeiten“ ein Tabu, dass du vermutlich nicht spontan verstehst, warum ich das rufe und warum ich so sehr überzeugt davon bin, dass sich deine Welt verändern wirst, wenn du das wirklich lernst für dich. Wenn nicht du, wer dann?


„Wie geht es dir denn?“ „Ich bin vor einigen Monaten mit Hashimoto diagnostiziert worden“, sagt die Frau. „Ach, ist schon ok, das ist mit Medikamenten gut einstellbar. Ich bin wirklich täglich dankbar.“ Die braungebrannte Camperin sagt dies äußerlich strahlend während eines Reiseprogrammes.

Ich höre den Schmerz hinter diesen Worten. Kleingeredet. Weggedrückt.

„Ich komme klar mit meiner neuen Situation. Gut, dass du für dich einen Weg gefunden hast.“ Das schreibt mir ein Projektleiter, dessen Arzt ihm gerade sehr nahegelegt hat, dass er von jetzt an weniger große Projekte annehmen sollte.

Ich höre den Schmerz hinter diesen Worten. Ungefühlt. Ungesehen.

„Ich kann meine Linsen nicht mehr gut vertragen. In meiner dicken Brille will ich aber nicht nach draußen. Habt ihr noch eine Idee, was ich tun kann?“ So oder so ähnlich schon öfter gelesen in meiner Facebookgruppe für Hochmyope.

Ich höre den Schmerz hinter diesen Worten. Totgeschwiegen. Ungehört.

Unsere Gesellschaft belohnt, was deinem Lebensglück im Weg steht

Ich bin mir sicher: Du weichst deiner Traurigkeit oder deinem Schmerz nicht bewusst aus. Du hast dir zu eigen gemacht, was gesellschaftlich akzeptiert ist.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der erwartet wird, dass wir mal kurz traurig sind, uns da durcharbeiten und dann wieder fröhlich in Richtung Zukunft schauen. Positiv, natürlich. Voller Kraft das Beste draus machen. Immer nach vorne. Ach ja, und am besten noch kommen wir dann am Ende unserer Reise toller und stärker im Leben an. (Stichwort: Heldenreise)

Die meisten von uns lernen nicht, dass Traurigkeit und Schmerz menschliche und natürliche Reaktionen sind, wenn wir etwas verlieren.

Traurigkeit muss „weg“ und zwar so schnell wie möglich. Wut muss noch schneller Weg. Schmerz? Stimmungsverderber.

Du und ich, wir brauchen Menschen, die den Mut haben, ihre Gefühle sehen und ihnen den nötigen Raum geben. Menschen, die das „und“ leben. DAS sind echte Held*innen! Mut entsteht aus echtem Mitgefühl für dich selbst.

Wenn deine Gefühle nicht sein dürfen, verlernst du, sie zu sehen

„Du kannst keinen Verlust in dein Leben integrieren, ohne Schmerz zu erfahren. Alles, was du tust, um Schmerz wegzudrücken, verhindert deinen Trauerprozess. Dann fühlst du keine Trauer mehr, aber auch keine echte Freude. Alle Gefühle sind gedämpft.“

Prof. Dr. Manu Keirse, klinischer Psychologe und Experte für Verlust und Trauer

Die meisten Menschen haben nie gelernt, mit Trauer umzugehen. Noch weniger haben wir gelernt, leise Trauer zu erkennen, deren Ursachen wir uns kaum selbst zugeben wollen. Ich bin überzeugt: Die drei Menschen, die ich oben zitiert habe, werden sich selbst nicht als Trauernde bezeichnen. Es geht doch weiter, oder? Ich komme absolut klar, ist schon gut.

Noch viel karger wird es, wenn unsere Umwelt nicht erkennt, wie schmerzhaft etwas für uns ist. Dann lernen wir früh, oft sehr früh, unseren Schmerz schnell wieder wegzudrücken. Immer wieder. Bis er sich nur noch in Fragen nach Tipps nach außen traut oder in einem „ach, ich komme schon klar.“ Und damit verhindern wir unbewusste aus falsch verstandener Stärke unsere eigene innere Heilung.

Ja, du trauerst! Auch wenn du das selbst vielleicht noch nicht weißt

Ich habe viele Jahre nicht getrauert, weil ich nie wirklich das Gefühl hatte, dass das mit dem Trauern etwas mit meinem Leben zu tun haben könnte. Das Konzept „Trauer“ habe ich überhaupt nie mit mir in Verbindung gebracht: Ich saß nicht weinend in der Ecke, ich war nicht unfähig, etwas zu tun. Ich weinte eigentlich überhaupt nicht wegen all der Verluste, die durch meine Augen in mein Leben kamen. Eher machte ich mir Vorwürfe. (Verrückt, oder?)

Erst als ich auf psychosomatische Reaktionen meines Körpers hörte, ging ich auf Forschungsreise nach dem Thema. Fand ich Texte und Erkenntnisse auch zum Thema „Trauer bei chronischen Krankheiten“. Erst da begriff ich: Was ich alles fühle oder eher nicht fühle, ist das Resultat von all den Jahren, in denen ich meinen eigenen Schmerz nicht sah, nicht gelernt hatte zu sehen. Von Wegdrücken, Kleinreden, Schönreden – wie die drei Menschen, die ich am Anfang zitierte.

Ich war schon immer hochgradig kurzsichtig. Schon als war ich oft unglücklich: Wegen der dicken Brille. Wegen der Linsen. Wegen der peinlichen Situationen im Sportunterricht. Später: Wegen verkorkster Tanzstunden. Wegen gefühlter Unattraktivität. Wegen verpasster spontanen Aktionen. Wegen unmöglicher Karrierewege. Komplizierte Star-OPs mit Anfang 30. Misslungene Laser-OP davor. Ich habe viel gekämpft, sehr viel. Bin über meine physischen Grenzen gegangen. Habe Dinge erreicht, über die ich mich heute selbst wundere. Natürlich habe ich über meine Sorgen gesprochen, aber so, wie ich es gelernt hatte: Aus meinem Kopf heraus. Niemand konnte fühlen, wie es sehr mich Dinge wirklich belasteten. Auch ich nicht.

Und die „Welt“?: Die sah, dass ich international arbeitete, dass ich schon immer ein spannendes Leben hatte. Ich war Anne, die irgendwie ganz schön komplexe Augen hat. Immer schon. Normal irgendwie.

Drama bekommt Aufmerksamkeit – leise Verluste bleiben ungesehen

2020 zerschmetterte ich meinen Ellbogen spektakulär; so spektakulär, dass ich von der Krankenversicherung (!) einen wunderschönen Blumenstrauß erhielt. „Für so schlimme Fälle“, so die nette Dame am Telefon, „haben wir ein besonderes Budget. Ich hoffe, die Blumen geben Ihnen ein wenig Kraft.“

Das haben sie! Weil sie ein Zeichen von Außen waren, das mir sagte: Es ist wirklich schwer. Wir sehen das.
Ich schaute auf den Strauß und fühlte, wie es mir warm ums Herz wurde. Noch heute fühle ich ganz tief im Inneren, dass meine starken Schmerzen durch dieses Zeichen besser tragbar waren. „Es ist schlimm. Wir sehen das.“

Sichtbare Verluste bekommen Aufmerksamkeit

Kein Drama, keine Sichtbarkeit

„Das linke Auge ist um eine Dioptrie schlechter geworden.“
Eine Hiobsbotschaft, wenn du als Teenager sowieso schon unter einer dicken Brille leidest oder unter scheuernden Kontaktlinsen.

„Du darfst die weichen Linsen nicht mehr tragen. Die harten wirst du täglich leider weniger lang vertragen.“
Am Boden zerstört war ich als junge Frau mit – 23 Dioptrie-Augen als ich dies hörte.

Die Linsensituation hatte damals massive Auswirkungen auf mein Berufs- und mein Privatleben mit enormen Sekundärverlusten an Karrieremöglichkeiten und Lebensfreude.

„Wir erwarten, dass der Workshop so lange geht, bis ein konkretes Ergebnis herauskommt. Das kann auch mal bis 20:00 Uhr sein.“ Das ist mir leider nicht möglich. Spannenden Auftrag verloren. Finanzielle Einbußen.

„Sie haben links jetzt eine myopische Makuladegeneration. Da kann man nichts machen. Aber sonst sieht es doch noch ganz gut aus.“

Verluste, die das ganze Leben bestimmen. Verluste, die Sekundärverluste nach sich ziehen. Kein Blumenstrauß, nirgends.

„Leider ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Sie irgendwann schwer sehbehindert werden.“

Zack. Da wäre ein ganzes Orchester mit traurigen Violinen angemessen, oder? Und jede Menge wunderbarer Blumensträuße. Aber nichts von dem.

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals wirklich getrauert habe. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich geweint habe. Stark sein, war die Devise. Immer weiter.

„Toll, wie stark du bist.“, habe ich regelmäßig gehört. Dieses Lob macht den Schmerz unsichtbar. Aus Versehen, gut gemeint und doch. Und glaube mir: Wir haben eine gute Antenne dafür, ob es eine echte Bestärkung ist oder eher sagt: Schnell weg vom Schmerz. Der ist mir zu viel. Der macht mich hilflos.

Wenn die Welt dich nicht sieht mit deinem Schmerz und deinen Verlusten, wie sollst du das dann lernen für dich?
Wenn die Welt dich nur lobt, für deine Stärke und dafür, dass du nie aufgibst und nie dafür, dass du den Mut hast, deinen Schmerz zu sehen, wie sollst du deine Tränen weinen können?

Unsere Schmerz ist oft unsichtbar, selbst für uns. Wir haben so sehr gelernt, unsere Gefühle wegzudrücken und zu rationalisieren, dass wir sie selbst kaum noch fühlen können.

Anne Niesen | SEHHELDIN

„Ich sehe dich“

Es ist nun schon bestimmt drei Jahre her und ich erinnere es immer noch: Ein älterer Herr, dem ich nur in einigen dürren Worten erzählt hatte, warum ich meinen alten Beruf nicht mehr ausübe, schaut mich mit sehr viel Mitgefühl an und sagt mit Wärme in seiner Stimme: „Das scheint mir wirklich schwer. Es tut mir leid, dass du so viel Schweres auf den Weg bekommen hast.“ Er wusste fast nichts von mir. Er sah mich. Ich weine zwei Tage durch. Endlich.

Foto eines Schriftzugs auf dem Bürgersteig: ZIe je iets? Auf Niederländisch: Siehst du etwas?
Siehst du etwas?

7 Fakten: Das bringt es dir, deinen Schmerz zu sehen

  1. Wenn dein Körper Einfluss auf dein Leben nimmt, sind daran Verluste gekoppelt. Kleinere, mittlere, große. Immer.
  2. Jeder Verlust ist gekoppelt an Schmerz.
  3. Deine Außenwelt kann nur selten begreifen, wie schwerwiegend oder weitgehend diese Verluste für dich und dein Leben sind. Je unsichtbarer die Krankheit, je weniger.
  4. Sekundärverluste werden meist gar nicht mitgedacht, dabei wiegen die oft schwerer als die gesundheitlichen Verluste an sich. (Sekundärverluste: Die Verluste, die sich ergeben zum Beispiel aus weniger Energie)
  5. Gerade darum ist es nötig, dass du dich siehst. Wenn du vermeintlich negative Gefühle unsichtbar machst, blockieren sie dich.
  6. Kleinreden, flüchten, wegdrücken führt dazu, dass du dich immer mehr von dir entfernst. Deine Seele leidet. Die Wunde bleibt offen. Das muss sich nicht dramatisch anfühlen. Du weißt ja nicht, wie es dir geht, wenn es anders ist.
  7. Schmerz, Traurigkeit und Trauer brauchen Zeug*innen. Menschen, die dich wirklich sehen. Die dir wirklich zuhören. Die sagen: „Erzähle. Ich bin hier. Ich höre dir zu. Ich urteile nicht. Ich verurteile nicht. Ich bin hier. Du belastest mich nicht. Ich bin hier. Ich sehe dich.“

Siehst du dich schon? Wirklich? Lässt du dich sehen? Gehst du Schritte für dich, damit das, was verborgen ist und unsichbar endlich sichtbar sein kann? Damit Wunden sich schließen können? So kommst du wieder wirklich im Leben an. In deinem Leben.

Sieh dich! rufe ich voller Überzeugung. Sieh deine Verluste. Sieh deinen Schmerz.

Ich rufe mit Wärme. Mit Verständnis. Sieh dich! Ich sehe dich. Ich helfe dir, dich zu sehen. Wenn du das willst. Schreibe mir eine Email und wir finden heraus, ob ich jetzt die Richtige für dich bin: hallo@sehheldin.eu


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