Oder: Deine Seele braucht Zeit (wenn die Welt nach Plänen fragt)
Wenn das Alte nicht mehr zurückkommt
Dein altes Leben gibt es so nicht mehr. Es wird auch nicht zurückkommen, nie mehr. Du bist innerlich heimatlos. Keine Ahnung, wer du nun sein willst oder sein kannst. Deine alte Umgebung versteht nicht, wie dein Leben nun aussieht, wie es in dir aussieht – nicht, weil sie es nicht will, sondern weil sie es nicht kann.
Die Welt fordert Pläne – du brauchst Zeit
Die Welt fragt nach Zukunftsplänen. Dein Magen zieht sich zusammen – um dich herum nur eine große Nebelbank, mal etwas lichter, mal undurchdringlich. Und du bist müde, so müde. Noch ist es nicht wirklich bei dir angekommen, dass es dein altes Leben nicht mehr gibt.
Die Welt fragt dich nach Zukunftsplänen. Sie wirft dir Phrasen in den Weg, über die du stolperst: „Es ist doch noch so viel Schönes in deinem Leben.“ „Du schaffst das schon, du bist stark.“
Du bist viel zu müde, um zu protestieren. Diese Sätze ziehen Kreise in deinem Herzen und in deinem Kopf – und sie setzen sich fest, als Vorwürfe an dich selbst.
Die Last deiner Erwartungen an dich selbst
„Jetzt reiß dich mal zusammen“, sagst du dir. „Jetzt mache doch mal Zukunftspläne, es muss ja weitergehen“, sagst du dir. „Du hast doch früher auch immer Lösungen gefunden“, sagst du dir. „Mach was, regel etwas“, flüstern deine Ängste dir zu.
Doch du bist müde, so müde.
[Was Trauer mit Müdigkeit zu tun hat? Clicke hier für meinen Blogartikel „Du willst nur noch schlafen? Trauer macht müde.“]
Aus alter Gewohnheit unterwirfst du dich dem, was die Welt und deine alten Gedanken dir in den Weg werfen – nur um zu merken: Es funktioniert nicht. Nichts von dem Erdachten erwacht und wird Realität.
Mit Mitgefühl statt Aktionismus durch die Ungewissheit
Ich hoffe, dass du in einem dieser Momente meinen Text findest.
Ich hoffe, dass du dich gesehen fühlst und durchatmen kannst.
Denn gerade ist nur eines sicher:
Deine Seele braucht Ruhe. Durchatmen. Sie braucht dich. Sie möchte eingehüllt werden in eine warme Decke, liebevoll und voller Mitgefühl für dich selbst.
Sie möchte hören: Nimm dir Zeit. Sieh, dass es schwer ist. Sieh, dass es groß ist. Sieh, dass diese Nebelbank dir zeigt: Mache jetzt langsam. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, um wirklich zu verstehen, dass nichts mehr ist, wie es war. Dass es nie mehr so sein wird, wie gedacht.
Nimm dir die Zeit, um deine Vergangenheit, deine Träume, deine bisherigen Ideen über dich selbst und dein Leben zu würdigen – und dich mit Liebe von ihnen zu verabschieden. Nimm dir die Zeit, um in dir etwas Neues entstehen zu lassen. Nimm dir die Zeit, die deine Seele jetzt braucht.
Diese Reise ist so individuell. Wie lange sie dauert für dich, das hängt von so vielen Faktoren ab. Lerne, dir zu vertrauen, dem Leben zu vertrauen in dieser Zeit des Nicht-Wissens.
Was dir auf dieser Reise helfen kann
- Meditation, Atemübungen, Journaling
- Gespräche mit Menschen, die wirklich zuhören. Die nicht nach Lösungen suchen, kein eigenes Urteil über deine Situation fällen und nicht finden, dass du irgendetwas „musst“.
- Mitgefühl: Für dich selbst und von anderen (kein Mitleid!). Hier helfen Übungen und Meditation zu Loving Kindness (Metta).
- Musik, die dein Herz berührt
- Spazierengehen
- Etwas für andere Menschen tun
- Ohne Schuldgefühl zu „bingen“ oder dich zurückziehen in deine persönliche „Höhle“
- Dich mit angrenzenden Themen zu beschäftigen, zum Beispiel dadurch, dass du Podcast hörst
Klinkt vielleicht platt und austauschbar oder irgendwie „zu psycho“. Das dachte ich auch mal. Versuche es einfach! Das gehört auch zur SEHHELDIN-Neugierde. Was hilft, das hilft, oder?
Und: Ich sage bewusst „kann“: Manches ist tatsächlich bewiesen und allgemeingültig und doch geht es immer darum: Was unterstützt dich?
Im Nebel, aber nicht allein
In diesen Lebensphasen brauchst du Gegenüber. Verbindung. Verständnis. Es geht nicht allein! Erwarte das also auch nicht von dir! Du bist nicht schwach oder unfähig, wenn du das einsiehst, im Gegenteil! (Been there, done that). Alleine tut dir nicht gut. Alleine ist mühsam. Alleine ist schmerzhaft. Und noch nebliger.
Meine eigene Erfahrung und Überzeugung: In diesen Phasen ist alleine ein klassisches, lösungsorientiertes Coaching nicht sinnvoll. Auch viele Therapieansätze nicht.
Es braucht Menschen, die im Herzen verstehen, dass diese Gefühle von Nebel und Müdigkeit natürliche und gesunde Reaktionen auf einschneidende Veränderungen und Verluste sind.
Es braucht Menschen, die wissen: Wenn du diesen Teil deiner Reise versuchst abzukürzen, wirst du nicht ankommen, jedenfalls nicht in einem sinnvollen Leben, deinem sinnvollen Leben.
Gut zu wissen:
Ich habe aufgrund dieser Erfahrungen und mehrerer „zerschlissener“ Coaches und Therapeuten selbst meine Fähigkeiten ausgebaut, um genau diese Begleitung für dich sein zu können – wenn du willst. (Und nur dann! Ich sage nie, dass ich die einzige Möglichkeit bin, das wäre nicht nur unprofessionell, sondern auch unethisch)
Aktivismus ist kontraproduktiv
Am schwersten auszuhalten ist es, nicht in Aktivismus zu verfallen. Nicht doch zu planen, nicht doch schon viel zu früh Zukunftspläne zu schmieden.
Was hilft, ist zu verstehen: Alles, was du jetzt tust, wird vermutlich keine Früchte tragen. Du bist da noch nicht.
Wenn du es trotzdem tun willst, weil es dir gut tut, dann tu es!
Wenn du es tun willst, weil dich deine Ängste oder inneren Muster dazu treiben, dann lass es!
Was du auf jeden Fall tun kannst:
Dich auf diesem Weg begleiten. Bewusst im Nebel sein und dies als Teil deiner Reise zu deiner neuen Zukunft verstehen.
Mit innerem Kompass durch die Nebelphase zwischen Vergangenheit und Zukunft
- Je dichter der Nebel, desto wichtiger dein innerer Kompass. Er zeigt dir die Richtung auf dem Weg durch die Ungewissheit, flüstert dir Antworten auf die Fragen, die dein Leben dir jetzt stellt:
- Was für ein Mensch willst du jetzt sein?
- Wie willst du dem begegnen, was dein Leben dir auf deinen Weg geschmissen hat?
- Wie willst du mit dir selbst umgehen?
- Wie begegnest du deinen Ängsten, Sorgen, Selbstvorwürfen?
Liebevoll. Mit Mitgefühl für dich selbst. Denn es ist schwer. So schwer.
Gibt es überhaupt einfache Antworten? Wahrscheinlich nicht – und einfache Lösungen schon gar nicht.
Zwischen Gestern und Zukunft liegt immer eine Durststrecke. Eine Zeit des Nicht-Wissens. Eine Zeit, in der deine Seele begreifen will und muss, dass es dein altes Leben so nicht mehr gibt und deine Zukunft anders aussehen wird als gedacht. Eine Zeit, in der alles in dir einen neuen Platz finden muss. Eine Zeit der Trauer.
Es hilft zu wissen: Das ist normal. Noch mehr: Natürlich und heilsam. Und wenn du ein wenig wie ich bist, hilft es dir zu wissen: Diese Zeit jetzt wirklich und bewusst zu leben, das ist zukunfts- und lösungsorientiert. Alles andere ist Aktivismus.
Deine Seele braucht Zeit. Schenke sie ihr.
Als Seglerin weiss ich inzwischen…der Nebel löst sich ganz ohne mein Zutun von alleine. Es ist gut die Wartezeit sicher zu verbringen und die Ruhe zu genießen.
Danke Anne für dein Da-sein.
Brigitte, das ist ein so schönes Bild und Lebenserfahrung, danke dir. Segeln schien mir immer genau mein Ding, aber war es dann doch leider gar nicht. Wie schön, dass es deines ist! Dir auch Dank fürs Mitreisen.
Danke, Anne, für diese wunderbare und treffende Ermunterung, den Nebel auszuhalten und nicht durch Aktivismus zu verdrängen (versuchen)!
Ermunterung ist schön, danke dir, Doris. Ich denke, je mehr wir erfahren, dass es gut tut, je gelassener navigieren wir durch diesen Nebel und halten an, wissend, dass genau dies nach Vorne bringen wird. Aber du hast Recht: Es liegt nicht in unserer Natur und wird auch oft nicht wirklich verstanden. Und manchmal darf es auch nicht gelingen, das ist das Leben, oder? Herzlich, Anne