Sommerfeeling in der Stadt. Menschen sitzen draußen, lachen und freuen sich an der Sonne, an der Leichtigkeit, am Zusammensein.
Menschen. Ich weniger, denn für mich fühlt sich das Sonnenlicht an wie Messerstiche. Ich finde meinen Weg kaum, obwohl ich einen Hut trage und eine sehr gute Sonnenbrille. Ich kontrolliere zwei Mal, ob ich überhaupt eine Sonnenbrille aufgesetzt habe, weil es sich anfühlt, als ob das Sonnenlicht ungehindert auf meine Netzhaut trifft.
Durch meine Augenerkrankung ist die Sonne immer mehr die Feindin meiner Augen geworden. Phototobie, Blendempfindlichkeit oder Lichtempfindlichkeit trifft viele Menschen, bei denen die Netzhaut angegriffen ist. Grauer Star oder Makuladegeneration wirken auch verstärkend.
Praktische Lösungen bei Sonnenempfindlichkeit
Nicht schön. Gar nicht schön. Ich beginne damit, herauszufinden, was ich ganz praktisch tun kann.
- Einen sehr erfahrenen Optiker /Optikerin aufsuchen und mich beraten lassen.
- Die für mich beste Sonnenbrille erwerben. (Das ist absolut persönlich, daher: Beraten lassen!)
- Meine Gläser sind kontrastverstärkend und färben meine Welt in ein schönes braun-oranges Licht. Polarisierend und entspiegelt. (Erste Infos findest du hier: Kuratorium Gutes Sehen e.V.)
- Die ganz dunklen Gläser für Sonnenbrillen, die meine Augen besser beschützen würden, nehmen so viel Licht, dass ich auch nichts mehr sehe. Das ist daher keine Option im Moment.
- Der nächste Kauf: Ein Hut mit ausreichender Krempe muss auch sein. Bisher hatte ich Mützen mit kleinem Schirm, aber das ist nicht mehr ausreichend. Ich suche lange: Viele passen nicht oder die Krempe ist zu schmal oder zu lang. Oder ich mag mich einfach nicht mit dem Hut. Schließlich will ich ja auch noch gut aussehen.
- Ich lerne, nicht dort zu sitzen, wo ich es nett finde, sondern stattdessen: Immer mit dem Rücken zur Sonne sitzen und sowieso immer im Schatten oder mindestens Halbschatten.
- Ich lerne, mir „Dunkelpausen“ einzuplanen. Das heißt, drinnen sitzen mit heruntergelassenen Jalousien.
- Ich probiere aus, was noch geht und was nicht mehr oder nur mit Mühen.
Ok, das macht es schon mal besser handhabbar. Alle praktischen Möglichkeiten für jetzt umgesetzt. Haken dran.
Praktische Lösungen sind die Basis
Das ist die praktische Seite. Die ist auch enorm wichtig, denn damit tust du alles für dich, was möglich ist. Ein gutes Gefühl.
Damit hören sie dann auch meist auf, die guten Ideen und Tipps. Haken dran, weiter mit dem Leben. Nach der Basis kommt nichts mehr außer einem großen Loch. Sonnenbrille auf, Hut auf, mit dem Rücken zur Sonne, halbe Tage drinnen und weiter mit deinem Leben.
Du merkst auch: Da stimmt was nicht. Da fehlt etwas, etwas ganz Entscheidendes: Nämlich du, als Mensch.
Praktische Lösungen sind die Basis! Die Grundlage, auf die du bauen kannst. Wenn du dabei stehen bleibst, dann ignorierst du dich, dich als Mensch. Als Mensch mit einem Leben, mit Gefühlen. Mit Wünschen und Hoffnungen, mit Sehnsüchten und Leidenschaften.
Basis ist mir nicht genug. Und dir?
Anne Niesen / SEHHELDIN
Annehmen, was ist: Sonnenempfindlichkeit und Gefühle
Ich lese sie, die Kommentare und Tipps in Augenforen und für mich. So viele Gefühle, überall, meist zwischen den Zeilen, unausgesprochen und doch so unglaublich anwesend. Als ob sich niemand traut, darüber zu reden. Sich schämt oder Angst hat, dadurch in einer Ecke zu landen, ausgeschlossen zu sein.
Das verstehe ich! Sehr, denn gerade, wenn es neu für uns ist, dann triggert diese Veränderung auch andere Sorgen und Ängste: Nicht mehr dazugehören. Anders zu sein. Lästig zu sein oder was auch immer unser Gehirn und alte Muster uns einflüstern.
Abgesehen davon, war es für mich schon der erste Schritt überhaupt einen Hut zu tragen, der auffälig ist, dazu noch eine Sonnenbrille und dann zu Zeiten, in denen sonst niemand einen Hut trägt, weil die Sonne ja auch bei Bewölkung sehr blenden kann. (Das war nur die ersten Male eine Überwindung, aber diesen Mut brauchte ich)
Living Loss: Es bleibt eine Aufgabe, anzunehmen
Ja, ich gewöhne mich dran, ja, mir fällt es immer leichter, zu meinen Bedürfnissen zu stehen und auszusprechen, was für mich nötig ist, ja, ich plane immer besser. Und gleichzeitig erfahrene ich immer wieder aufs Neue die Sehnsucht nach diesem Sommergefühl, Gefühle des Ausgeschlossenseins und der Traurigkeit und auch mal Wut, wenn ich heftige Augenschmerzen habe und nur noch unter der Decke liegen kann nach etwas, was für andere der kleine Ausschnitt eines Tages gewesen wäre.
Der Schmerz, den die Sonne in meinen Augen verursacht, ist so viel einfacher anzunehmen, als alle Folgen, die dies auf mein Leben hat. All die kleinen und größeren Verluste, die so oft gar nicht als Verluste wahrgenommen werden. Und die durch keine einzige praktische Lösung aufzuhalten sind.
Es ist traurig
- immer wieder nicht spontan teilnehmen zu können, wenn andere sich einfach auf einer Wiese niederlassen oder in einem Cafe, bei dem es keinen Schattenplatz unter einem großen Sonnenschirm gibt.
- zu akzeptieren, dass ich bei Sonnenschein kaum an dem so geliebten Wasser sein kann, weil das Glitzern auf der Wasseroberfläche noch mehr Messerstiche im Augen bedeutet.
- zu akzeptieren, dass ein schönes Frühling- oder Sommererlebnis den Tag deutlich verkürzt, weil ich danach erstmal im Dunkeln drinnen sitze mit feuchtem Waschlappen auf den Augen.
- zu akzeptieren, dass ich die Jalousien runterlasse, wenn die Seele nach dunklen Tagen Sehnsucht nach Licht hat und wenn ich draußen fröhliche Stimmen höre von ausgelassenen Menschen.
- immer wieder sagen zu müssen: Ich kann nicht. Es geht nicht.
Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich aus vollem Herzen sagen konnte: Genießt den Tag heute. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich genießen konnte, was ist und gleichzeitig traurig über das, was schwer ist.
Ich habe eine Weile gebraucht, viel geforscht und gelesen, bis ich verstanden hatte: Es ist menschlich und heilsam, das Und zu leben (Als Erklärung, lies diesen Blogartikel). Erst dann, ist echtes Leben möglich. Mein Leben. Jetzt.
Sieh dich und deine Gefühle!
Das rufe ich so oft, weil es viel zu wenig gesagt und gesehen wird. Weil die meisten Beratungen in praktischen Lösungen steckenbleiben und die meisten sich nicht trauen, ihre eigenen Gefühle auszusprechen.
Bleibe nicht stecken in den praktischen Lösungen, die doch nur der erste Schritt sind, die Basis. Das Vernünftige, das du vermutlich aus dir heraus sowieso tust.
Die SEHHELDIN ist entstanden, weil ich gesucht und nicht gefunden habe. Mir haben die praktischen Lösungen nie gereicht. Weil ich weiß: Das ist kein Leben. Das ist Überleben, Durchwursteln, irgendwie das Beste draus machen (was nie das Beste ist).
SEHHELDIN heißt für mich: Leben. Entwicklung. Mensch-Sein, ganzer Mensch. Neugierig, mutig, zuversichtlich. Schritte setzen. Veränderung.
Diese extreme Sonnenempfindlichkeit ist mehr als nur physisch schmerzhaft. Sie verändert dein Leben auf allen Ebenen.
Wenn du nur praktisch denkst und deine Gefühle ignorierst, die diese vielen Verluste von Gemeinschaft, von Unbeschwertheit, von Lieblingsplätzen und – Beschäftigungen natürlicherweise dir immer wieder vor Augen führen, dann ignorierst du dich selbst.
Und verpasst eine so wichtige Chance: Dir darüber klar zu werden, was du jetzt möchtest. Als welcher Mensch du in deinem neuen Leben stehen willst. Oder ganz frei nach Viktor E. Frankl: Welche Antworten du auf die Fragen geben willst, die das Leben dir stellt. Für deinen ganz eigenen Weg.
Das ist für mich Lebenserfolg.
Du bist cool!
Jemand sagte mal zu mir: „Playing cool? Mit Sonnenbrille und Hut hier im Halbschatten?“ Das bekommt natürlich einen Ehrenplatz auf der Liste der doofen Bemerkungen. Außerdem: Du bist cool!
Du hast extrem lichtempfindliche Augen. Das ist nicht deine Schuld und du kannst diese Tatsache nicht verändern.
Du kannst nur einen Weg für dich finden. Deinen Weg. Praktische Möglichkeiten suchen und – fast noch wichtiger: Deine Seele nicht vergessen!
Du darfst stolz auf dich sein. Immer wieder. Denn es ist nicht nichts. Im Gegenteil: Es braucht viel Kreativität und innere Stärke, um dein leichtes Sommerfeeling neu entstehen zu lassen. Auf deine Weise.
Und jetzt: Lass uns die Sonne genießen!
Deine Anne, die SEHHELDIN
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Liebe Anne,
ja, das ist ein ganz besonderes Thema..
Wenn man den ganzen Herbst und Winter über gefühlt nur Dämmerung hat und auf den hellen, freundlichen, lebensfrohen Sommer wartet – und dann macht schon der erste sonnige Frühlingstag zu schaffen..
Das nervt und frustriert total.
Aber du hast recht, sich selbst zu sehen und die eigenen Bedürfnisse nicht als Egoismus einzuordnen, hilft wirklich.
Auch wenn ich den Eindruck habe, dass es sich da um lebenslanges Lernen handelt ;).
Ich muss mich jedenfalls immer wieder daran erinnern, dass ich sagen und tun darf, was ich brauche. Aber ich übe.
Jeden Tag. Und ich merke, ich werde besser, und damit geht es mir auch besser.
Vielen Dank für deine guten Tipps und dein Erinnern!
Susanne
Liebe Susanne, mit deinem Kommentar hast du einen SEHHELDIN Letter inspiriert. JA – es frustriert total. Mehr als das. Es ist so wichtig, dass wir das irgendwo laut sagen dürfen. Angefangen damit, dass wir es uns selbst sagen. Das ist nicht „normal“ und nicht nichts. Es bedeutet so viele Verluste, auch manchmal eine Art Isolation. Nicht teilnehmen können, nicht tun können, was dir so lieb ist, nicht einfach dran-freuen-können, das ist so viel. Und ja: Es ist sowieso lebenslanges Lernen. Und wir üben und werden besser. Und vor Allem: Du bist aktiv dabei,für dich etwas zu verändern. Das finde ich so wichtig für das eigene Gefühl von Stärke und Glück. Bleibe so mutig! Anne
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Liebe Anne,
mit dem nun doch angekommenen Sommer habe ich mich in den vergangenen Tagen ebenfalls viel mit Sommergefühl, Lichtempfindlichkeit und dem Leben zwischen Licht und Schatten beschäftigt. Auch ein Blogbeitrag schwebte mir vor und gerade habe ich zufällig deine Gedanken dazu entdeckt!
Ein schöner Beitrag, der hoffentlich vielen lichtempfindlichen Menschen Mut gibt – Mut, den Sommer zu genießen, Mut sich selbst Gutes zu tun, sich die Lichtempfindlichkeit nicht übel zu nehmen und Mut, voll und ganz dazu zu stehen!
Ich habe mich 32 Sommer lang mit meiner Blendempfindlichkeit beschäftigt – notgedrungen. Sonnenbrillen, Hüte und viele Strategien. Trotzdem kommt immer wieder dieser Moment, in dem ich die Türklinke in der Hand halte, eigentlich los sollte und müsste… aber es geht nicht. Mein Innerstes WILL nicht. Nicht in das grelle Licht, das mir das Sehen fast unmöglich macht, das mich überanstrengt, meiner Seele wehtut. Überall ausgelassene Kinder, die mir mit Fahrrädern, Rollern und Bällen im Weg herumspringen, nichtwissend, dass mich ihre Ausgelassenheit so stresst. Die Außenbestuhlung der Cafés und Restaurants, Schilder mit Rabatten oder Speisekarten, alles liegt, steht, rollt in meinem Weg herum… Oft lasse ich die Türklinke los, sage ab, verschiebe meine Pläne auf den nächsten Tag, einen besseren Tag, an dem ich mehr Kraft habe. Dann lege ich mich im Dunkeln auf mein Sofa und danke mir herzlich für diese gute, richtige Entscheidung. Anfangs fühlte ich mich schwach, weil ich „es nicht durchgezogen habe“. Aber mit der Zeit war ich netter zu mir. Das ist keine Schwäche, sondern eine vernünftige, menschliche, selbstliebende Art, mit diesen Umständen umzugehen.
In diesem 33. Sommer ist es etwas anders. Die wundervolle, warme Sonne blendet mich weiterhin, die Wege strengen an, die helle Jahreszeit kostet Kraft. Aber wenn ich nun die Türklinke in der Hand halte und zögere, kommt von der Seite eine kühle Hundenase. Dann lasse ich die Türklinke los, nehme den Führbügel und weiß, dass ich es nicht alleine schaffen muss. Dass jemand auf mich aufpasst und das Sehen für mich übernimmt. In den letzten Tagen durfte ich mit halbgeschlossenen, entspannten Augen durch die sonnenüberflutete Welt gehen mit entspannten Schultern und sogar einem leisen Lächeln im Gesicht. Für mich sorgt mein Blindenführhund Harry für Sommerfeeling, indem er mir eine zentnerschwere Last abnimmt.
Ich wünsche dir, Anne, und allen Sehheld*innen einen wunderschönen Sommer – genießt ihn und seid gut zu euch!
Sommergrüße von Lizzi und Harry
Liebe Lizzi, danke für deinen wunderschönen Kommentar. Zu sagen: Ich übe schon so lange. Es ist nicht irgendwann ein Haken dran. Ich freue mich sehr, dass dir dein Blindenführhund mehr Sommerfeeling möglich macht! So hart hast du darum kämpfen müssen. Wir, die vermutlich nie blind werden, aber noch hoffentlich viele Sommer lang extrem blendempfindlich bleiben, lesen den ersten Teil gut deines Kommentars: „Das ist keine Schwäche, sondern eine vernünftige, menschliche, selbstliebende Art, mit diesen Umständen umzugehen.“ Ich übe erst viel kürzer. Dies war ein Meilenstein für mich, das zu erkennen. Aber auch: Dann nur kurz traurig zu sein, denn ich will ja so gerne dabei sein. Alleine auf dem Sofa liegen ist nicht das, was mein Herz verlangt. Auch da zu lernen: Traurig sein ist da nur allzumenschlich und dann mir auf die Schulter zu klopfen, dass ich gut zu mir bin. Darum gehts doch. Ich möchte, dass noch viel mehr Menschen auch ihre Seele sehen. Anders können wir keine Sehheld*innen sein. Sommergrüße zurück auch an Harry (der ist toll, aber lesen kann er wohl nicht), Anne
An alle: Lizzi hat auch einen tollen Artikel zu Augen, Sonne, Blendempfindlichkeit und Sommergefühl geschrieben. Ähnlich und doch ganz anders. Schaut doch mal rein: https://lizziswelt.com/2021/06/19/sommer-sonne-lichtempfindlich/