Heimatort, Katalysator, Erfolgsstory

Podcast: Endlich nicht mehr alleine! Eine Facebookgruppe für Hochmyope

(Das Beitragsfoto zeigt die Augen einer Frau, in einer Pupille das Facebooklogo)

“Ein Mitglied sucht Menschen mit hoher Myopie zum Austausch. Hohe Myopie beginnt bei – 6 Dioptrien.“

Ich traue meinen Augen nicht. Ein Aufruf an alle mit hochgradiger Kurzsichtigkeit, verschickt durch die Oogvereniging, der Patientenorganisation für Menschen mit Augenkrankheiten hier in den Niederlanden.

Sofort schreibe ich zurück: Ich! Ja! Unbedingt!

Hohe Myopie: Ich bin nicht die Einzige.

Wir telefonieren. Gerlof ist der erste Mensch, mit dem ich jemals spreche, der über – 20 Dioptrien hat. In all den Jahren, der erste. Ich war immer alleine, die einzige weit und breit mit hochgradiger Kurzsichtigkeit. Schon nach wenigen Sätzen ist deutlich: Es gibt eine starke, verbindende Basis. Wir verstehen, ohne zu wissen.

Ich muss mich erstmal setzen. Mein Herz klopft schneller. Erst jetzt merke ich, wie alleine ich bisher war und wie groß die Sehnsucht danach, gesehen und verstanden zu werden. Auch von mir selbst.

Gespräche verliefen bisher eher so: „Ich bin stark kurzsichtig.“ „Ja, ich auch, ich habe – 3,00.“

Früher so: „- 20 Dioptrien, das ist viel. Wie viel Visus haben Sie denn? 0,7 und 10 und keine schwerwiegenden Folgeerscheinungen? Dann ist doch alles gut.“

Im Dezember 2018 ruft Gerlof eine geschlossene Facebookgruppe ins Leben: Oogvereniging Hoge Myopie. Ein großes, sehr großes, Dankeschön an die Oogvereniging: Durch ihre Unterstützung erhält die Gruppe vom ersten Tag an Glaubwürdigkeit und Reichweite. Und natürlich auch an Gerlof für seine Initiative und seine grandiose Moderation!

Sichtbar, verstanden, konfrontiert

In den ersten Wochen sauge ich die Geschichten von Leben mit hoher Myopie förmlich auf. Geschichten, die nicht erst mit den Folgeerkrankungen beginnen, sondern schon als Kleinkind. Von Gefühlen, die ich so gut kenne und die ich so viele Jahre nicht ernst genommen habe. Konfrontierend, ganz sicher: Nicht wenige berichten von komplexen und multiplen Folgen, einige sind mittlerweile hochgradig sehbehindert. Diese Lebensgeschichten lassen mich meine mögliche Zukunft erahnen. Auch das ist gut, denn es hilft mir, mich meinen Ängsten zu stellen.

40 plus, weiblich – in der Mehrzahl

Der Anteil an Frauen um die 50 ist hoch: Mehr Frauen als Männer sind in Europa hochgradig kurzsichtig. Ab Mitte 40 treten dann häufig Folgeerscheinungen wie Grauer Star, myopische Makuladegeneration, Netzhautlöcher, spontane Netzhautablösungen und Glaucom auf – und was es sonst noch alles im Angebot gibt für uns hochgradig Kurzsichtige. (Meine Star-Operationen waren mit Anfang 30, hier geht es zu meiner Augengeschichte.)

Endlich sichtbar

Wir berichten uns von einem Leben, in dem es kaum Informationen gab und gibt. Bis vor Kurzem kannten viele das Wort Myopie nicht. Wir haben schon immer schlecht gesehen, kurzsichtig, so wie so viele andere auch. (Dachten wir) Wir alle sind geprägt von einem Leben, in dem wir uns selbst nicht ernst nehmen konnten, weil andere uns nicht ernst nahmen.

Hohe Myopie? Noch nie gehört.

„Ich habe ganz normal mein Leben gelebt, mit einigen Unannehmlichkeiten vielleicht. Aber alles gut.“ „Ich hatte mit 7 schon – 7. Brille auf, fertig. Nie hat uns jemand erzählt, dass dies besonders ist. Noch weniger, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, sehbehindert zu werden.“ „Hohe Myopie? Noch nie gehört. Das fängt schon bei – 6 Dioptrien an? Das hat mir nie jemand erzählt.“ (Ein Echo meiner Erfahrungen, in diesem Blogpost beschrieben)

Stand Juni 2019: FB Gruppe Oogvereniging Hoge Myopie

Heute, im Juni 2019, hat die Gruppe schon 140 Mitglieder. Nach knapp vier Monaten war der Zusammenhalt schon so groß, dass wir unsere ersten Treffen organisierten: Eines in Belgien und eines in den Niederlanden. (In Belgien organisiert durch die Belgierin Anja de Vuyst, die einen sehr lesenswerten Blog schreibt)

Unsere Gruppe ist ein Geschenk. Sie ist eine Art Augenheimat für Hochmyope im niederländischsprachigen Raum geworden.

5 Gründe: Darum brauchen Hochmyope eine extra Gruppe

  1. Würdigung, Anerkennung und tiefgehendes Verständnis
  2. Information
  3. Austausch
  4. Lobby / Bekanntmachung
  5. Netzwerk

Warum braucht ihr eine extra Gruppe?

Es gibt doch so viele Gruppen für Menschen mit Sehbehinderungen auf Facebook, warum braucht ihr eine extra Gruppe?, werde ich gefragt.
Stimmt, aber auch hier wiederholt sich meine Geschichte: Es hat sich auf meine Aufrufe hin niemand gemeldet, der als Basiserkrankung pathologische Myopie hat. Viele wunderbare Menschen, wertvolle Informationen , aber es fehlen relevante Anknüpfungspunkte.

Ein Beispiel: Viele Hochmyopen bekommen schon sehr früh Grauen Star (Katarakt). Poste ich eine Frage in anderen Foren für Sehbehinderte bekomme ich zu hören: „Grauer Star ist völlig problemlos, mach dir keine Sorgen.“ Das stimmt im Allgemeinen, aber nicht bei uns. In unserer Facebookgruppe wissen wir um die Komplikationen.

Noch ein Beispiel: Eine junge Frau postet bei den Hochmyopen ein Bild von sich mit ihrer neuen Brille mit Gläsern von – 20. Sie ist enttäuscht und fühlt sich hässlich. Wie gut kennen wir dieses Gefühl und wie ernst nehmen wir ihre Enttäuschung. Nur wer noch nie eine richtig dicke Brille tragen musste sagt: „Das ist doch nur kosmetisch.“

Wir kennen das Gefühl nicht ernst genommen zu werden. Brille auf oder Kontaktlinsen rein und weiter. Alle kennen die Gefühle von Ohnmacht, wenn wir wieder Optikern und Ärzten gegenüber sitzen, die keine Spezialisten für hochgradige Myopie sind. Optiker, die uns die falschen Brillen anpassen, Ärzte, die uns erst ernst nehmen, wenn wir medizinisch interessante Folgeerscheinungen aufweisen können. Ärzte, die die Folgeerscheinungen falsch einordnen, weil sie (Achtung Übertreibung) kurzerhand vergessen, dass eine myopische Makuladegeneration nicht identisch ist mit einer AMD (Altersbedingten Makuladegeneration) zum Beispiel.

Was mich noch begeistert:

  • Jede_r ist willkommen, ab – 6 Dioptrien aufwärts. Egal ob mit oder ohne Folgeerscheinungen.
  • Alle werden mit offenen Armen aufgenommen. Eltern von Kindern mit hochgradiger Myopie, interessierte Partner, wir selbst.
  • Wir wollen mehr: Mehr Sichtbarkeit, mehr Anerkennung, mehr Forschung.
  • Wir bewegen etwas: Die Oogverenigung unterstützt uns dabei. (Gerade sind zwei große Artikel erschienen, ein Podcast über hohe Myopie ist in Produktion)

Danke. Unsere Gruppe ist großartig. Wir haben in nur sechs Monaten so viel für uns erreicht. Ich bin sicher: Dies ist erst der Anfang.

Meine Vision

Eine Facebookgruppe Hohe Myopie auf Deutsch für alle ab – 6 Dioptrien, unterstützt durch eine Patientenvereinigung. Ich moderiere. Wenn es hilft, bringe ich meine Erfahrungen und Informationen aus den Niederlanden mit ein.

Wie findet ihr das? Wollt ihr auch so einen Heimatort? Wollt ihr auch, dass es noch mehr Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit für uns hochgradig Kurzsichtige gibt?

Und jetzt brauche ich eure Hilfe: Die meisten Menschen, die „erst“ – 12 Dioptrien haben oder – 20 und keine Folgeerscheinungen nehmen sich so wenig ernst, dass sie nicht nach Informationen suchen. Wenn ihr Menschen kennt, die es angeht: Verlinkt, teilt, macht aufmerksam, lasst sie von meiner Seite wissen. Danke!

Tschüs, eure Anne, die Sehheldin

Für alle die Niederländisch können: Herzlich willkommen in der Facebookgruppe Oogvereniging Hoge Myopie!

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