„Anne, ich bin so gerührt, welche sanfte Kraft du nun ausstrahlst.“, sagt eine weise Freundin zu mir. Ich freue mich. Wie schön zu hören. Wirklich schön, denn selbstverständlich ist dies nicht.
Jeder Filmregisseur würde mein bisheriges 2020 als Skript ablehnen. So viel Unglück und Pech in so kurzer Zeit, absolut unglaubwürdig. Und doch, das Leben schreibt die anderen Drehbücher.
Ende Mai. Gerade ist etwas Land in Sicht. (Für die Nachschau: Wir befinden uns mitten in der Coronazeit) Und ich? Ich falle und zerschmettere mir den Ellbogen. So richtig. So richtig schmerzhaft, so richtig langwierig, Ausgang ungewiss.
Privat steht gleichfalls alles auf dem Kopf und ich vor den ganz großen Lebensfragen.
Krisen haben ihre ganz eigene Dynamik
Regelmäßig beginne ich einen Blogartikel einzudiktieren (einhändig tippt es sich so mühsam…) und komme nie weit. Totale Blockade. Regelmäßig erreichen mich gutgemeinte Tipps dazu, wie ich doch trotzdem schreiben könne. Dies setzt mich erst unter Druck und dann merke ich: Blödsinn. In mir ist nichts blockiert. Ich brauche jetzt etwas Anderes. Anne, du begleitest seit Jahren Menschen durch berufliche und private Krisen und einschneidende Veränderungen. Du weißt, was jetzt richtig ist. Handele danach!
(Falls du wissen willst, warum ungefragte Ratschläge sowieso selten auf fruchtbaren Boden fallen, lies das in diesem Artikel gerne nach)
Innen vor außen
Zunächst einmal brauche ich schlichtweg Ruhe. Mehr, als ich mir selbst erst zugestehen will.
Fakt ist: Ich bin krank und mein Körper braucht Ruhe. Viel Ruhe. Selbst im Bericht des Krankenhauses steht: Sobald Sie sich müde fühlen, ruhen. Und müde fühle ich mich in den ersten Wochen dauernd, so müde, dass nichts geht.
Fakt ist: In mir passiert unglaublich viel. In kurzer Zeit habe ich mehrere traumatische Erlebnisse, die mich auch umhauen könnten. Mein Körper, meine Seele und mein Geist leisten Schwerarbeit. Veränderungen auf allen Ebenen. Die auferlegte Corona-Abgeschiedenheit verstärkt den Prozess noch: Die Seele geht auf Reisen und innen tobt das Leben. Was wir gerne mal unterschätzen (also ich jedenfalls): Emotionen kosten ungeheuer viel Kraft.
Ich habe die Wahl – und du auch
Ich beschließe: Auch jetzt will ich nicht Opfer sein. Es ist, wie es ist, aber ich habe die Freiheit zu wählen, wie ich mit der Situation umgehe.
Ich erlaube mir bewusst, mich nicht von meinen Ängsten treiben zu lassen oder dem vermeintlich Richtigen. Ich entscheide mich, von jetzt an kein schlechtes Gewissen mehr zu haben. Welch eine Erleichterung! Ich frage mich, wie ich mich in dieser Krise verhalten möchte. Was ich daraus lernen möchte. Wie ich meiner Seele Raum geben kann. Was meiner Heilung gut tut. Ich atme tief ein, wenn ich merke, dass ich gerade wieder meine Gefühle durch flaches Atmen unterdrücke. Ich schlafe, wenn ich müde bin. Ich weine, wenn ich traurig bin. Ich beschließe, dass ich Tag für Tag und Schritt für Schritt gehen werde. Ich beschließe, die kleinen Erfolge zu feiern (hey, ich komme mit der Hand jetzt zur Nase). Ich beschließe bewusst: Ich nehme meine Realitäten an. Es ist, was es ist.
Nein, ich bin nicht blockiert. Es ist (war) gerade nicht die Zeit, um Blogartikel zu schreiben. Es passiert so viel in mir, dass es noch nicht in schöner, reflektierter Form nach draußen kann. Die Erkenntnisse sind noch zu dicht.
Von außen gesehen sitze gezwungen fast still, innen wachse ich. Ich kann es fast körperlich fühlen, was alles in mir passiert. Ich scheine schwach und fühle mich doch stark. Sanfte Kraft, ja das trifft es. Und diese geht mit Gelassenheit einher.
Seit meinem letzten Schreibversuch sind 3 Wochen vergangen. Langsam finden die Ereignisse ihren Platz. Aus einem Facebookbeitrag formuliert sich fast wie von selbst dieser Artikel. (Apropos, ich schreibe immer, für mich, um zu Sortieren, für mein Inneres, um zu Verarbeiten und nicht für die Außenwelt bestimmt.)
Was ist klug in Krisen?
Kennst du diese Zeiten? In denen dir das Leben so viele Veränderungen und Einschnitte präsentiert, dass du all deine Kraft und all deine Sinne dafür nötig hast, zu sortieren, zu verarbeiten und allem einen Platz zu geben? Welch eine Frage, natürlich kennst du sie. Wir alle erleben Krisen und Unglücke und Verluste.
Wie wichtig ist es jetzt, deiner Seele Raum zu geben. Zu wissen:
- Wenn du jetzt still bist, nicht nach außen agierst, dann bist du nicht faul, sondern klug.
- Wenn du dir jetzt den Raum gibst, um zu verstehen, was alles passiert, dann ist dies klug.
- Wenn du nicht kleinredest und nicht groß, sondern siehst: Es ist schwer und viel und ich habe gerade Zeit nötig, dann ist dies klug.
- Wenn du dir überlegst, was dir gerade gut tut für deine Heilung, dann ist dies klug.
- Wenn du dich nicht unter Leistungsdruck setzt und auch nicht setzen lässt, dann ist dies klug.
- Wenn du dich nicht von deinen Ängsten leiten lässt, sondern von dem, was jetzt das Leben dir sagt und möglich macht, dann bist du klug.
Dann kannst du es kaum verhindern: Du wächst und entdeckst eine Stärke in dir, die du vorher vielleicht nicht für möglich hieltest. Du wirst fast unentdeckt eine neue Version deiner selbst.
Und eines Tages merkst du: Es ist gut. Jetzt ist es an der Zeit, wieder sichtbar zu werden in der Welt.
PS. Die gute und die schlechte Nachricht ist: Einen Strich können wir jetzt nicht drunter setzen. Vielleicht brauchen wir schon bald wieder eine Zeit, um innerlich zu (ver-) arbeiten. Dann wissen wir das und wehren uns nicht dagegen. Und können wieder bewusst eine Entscheidung treffen.
Liebe Leser*in
Erlaubst du sie dir, diese Zeiten, in denen vermeintlich nichts und doch alles passiert? Erlaubst du dir sie wirklich und fühlst dich dabei gut? Kommentiere und und teile deine Erfahrungen und Ideen mit uns.
Theoretisch bin ich bei dir.
Praktisch allerdings nicht so ganz, denn auch wenn Auszeiten wichtig sind, gibt es Menschen, die diese Möglichkeit nicht haben, auch wenn sie es gerne umsetzen würden.
Was machen zB Alleinerziehende mit Baby, ohne Unterstützung?
Wqs machen Elternteile, die Alleinverdiener in der Familie sind?
Punkte, die mir leider fehlen
Liebe Maria, danke für dein Feedback! Du hast Recht, es gibt Situationen, in denen es konkret einfacher ist als in anderen. Die kenne ich auch, auch gerade. Es geht für mich darum zu erkennen: Wo sind meine Stellschrauben? Was kann ich (trotzdem) tun? Immer verändern kann ich meine Einstellung zu einer Situation. Nicht sie gut zu finden, das wäre ja absurd, sondern zu beschließen: Es ist schwer. Es ist, was es ist. Was kann ich in meiner konkreten Situation tun? Ich habe zum Beispiel den Mut aufgebracht und mir bis dato unbekannte Nachbarn um Hilfe gebeten. Immer wieder zu überlegen: Lasse ich mich gerade von meinen Ängsten leiten oder gibt es doch irgendwo eine kleine Nische oder Möglichkeit? Das ist für jede*n anders und darum nicht von außen „anzuraten“. Und vor Allem: Zu wissen, es ist psychologisch NICHT möglich, direkt zur Lösung zu maschieren. Wir müssen durch diese Zeit durch – jede auf ihre Art. Kannst du was damit anfangen? Herzlich, Anne
Liebe Anne,
danke für diese wahren, klaren, starken Worte. So vieles davon habe ich in meinem Leben wiedererkannt, manches von früher, manches von jetzt. Besonders schön hat mir gefallen „Emotionen kosten ungeheuer viel Kraft.“ Das unterschreibe ich sofort und doch vergesse ich es hin und wieder. Danke für die Erinnerung.
Alles Liebe
Lisa
Liebe Lisa, danke DIR! Ja, ich erinnere mich auch täglich, wenn ich mir wieder beginne Vorwürfe zu machen oder mich faul zu finden…Alles Liebe zurück, Anne
Liebe Anne,
das hast Du ganz wunderbar gemacht und ganz wunderbar geschrieben. Genauso geht man auf gesunde Art und Weise mit Krisen um – und genauso kann man Krisen dann auch nutzen um an ihnen zu wachsen.
Ich musste das auch erst lernen, aber dafür ist ja dieses Leben da: Wir dürfen lernen und wachsen.
Ich schicke Dir ganz viele Säcke an guter und schneller Besserung für Deinen Ellbogen!
Viele liebe Grüße
Angela
Danke dir, liebe Angela. Ich bin auch immer wieder froh, dass (tatsächlich) persönliche Entwicklung eine meiner Haupt-Lebensmotivatoren ist. (Coach als Beruf war Ergebnis davon) Wie viel schwerer wäre es sonst in so Krisensituationen! Schicke mir Langmut und Zuversicht, das dauert, wenns überhaupt jemals wirklich gut wird..Viele liebe Grüße, Anne
Wenn Das Leben andere Drehbücher schreibt! Was für ein schöner Gedanke, liebe Anne! Wenn es anders kommt, als Frau/Mann denkt, bzw. das Leben uns zu uns selbst führt, dann geschehen Dinge, die sich nicht erklären uns jedoch wachsen und reifen lassen.
Vertrauen wir darauf.
Alles Liebe und Gute
Margaretha
Ja, liebe Margaretha, da hast du so Recht. Darum liebe ich auch das Schreiben. Hier gelingt es mir noch etwas besser, Dinge in Worte zu fassen, die sich eigentlich nicht erklären lassen. Ja, wir wachsen, immer weiter. Mich macht dieses innerliche Wachsen auch große Freude, dir auch? Herzlich, Anne
Hallo Anne, ein toller Artikel!!! Trifft total zu, lässt mich besser verstehen, warum ich mich dauernd rechtfertige, dass ich keine Lust auf Film, Ablenkung und „außen“ habe und (noch?) nicht zurück zum Chor gehen will… dank Dir für die Inspiration!
Liebe Mona, wunderbar, oder? Rechtfertigungen vor dir selbst oder anderen sind nicht mehr nötig. (Sowieso nicht und jetzt gibt es noch die Erklärung dazu :). Wenn wir grundsätzlich gesund sind, dh. keine schweren Depressionen oÄ haben, dann gehe ich immer davon aus, dass unser Bauchgefühl Recht hat. Dann ist die Frage: Was sagt es uns? Auf was weisst es uns klug hin? Alles Liebe und gutes Nichtstun (nach außen), Anne
Liebe Anne,
ich habe deinen Artikel jetzt zum zweiten Mal gelesen und beides Mal hab ich mich persönlich angesprochen gefühlt.
Besonders gefällt mir die Formulierung „… und innen tobt das Leben …“. Es beschreibt genau die Empfindung, die auch ich hatte, wenn ich durch schwere Zeiten ging.
Auch deinen Lösungsvorschlag finde ich absolut richtig. Es ist eben die beste Methode, sich selbst die Zeit zu lassen, die man braucht um gesund zu werden.
Liebe Grüße Edith
Liebe Edith, wie schön, dass du dich persönlich angesprochen gefühlt hast, denn genau dies möchte ich. Diese Zeit im „Innen“ gilt für alle krassen Veränderungssituationen, egal ob Krankheit, Trennung, Jobverlust, für jede Form von Verlust oder Einschnitt. Es geht psychisch nicht anders. Wir können nicht geradeaus von Verlust in Richtung neues Leben marschieren, funktioniert nicht. (sagt die Psychologie). Das zu wissen, das hilf auch, sich die Zeit zu erlauben, finde ich. Auf die Kraft in und durch die schweren Zeiten! Herzlich, Ann
Liebe Anne,
ich genieße jeden deiner Blog-Beiträge. Sie lesen sich so leicht, auch wenn das Thema schwer ist!
Dieser ist besonders schön, weil du aufforderst, sich Auszeiten in schweren Situationen zu erlauben.
Ich halte das für sehr wichtig, sich nicht zusätzlich von Außen unter Druck setzen zu lassen, wenn mein Inneres die Zeit zur Verarbeitung braucht.
Gebe ich mir bewusst die Erlaubnis, dann kann ich dem Druck von außen besser standhalten!
Vielen Dank für dein ermutigendem Worte!
Liebe Anette, das freut mich, ich danke dir sehr für deine Rückmeldung! Und wie schön, dass du einen zentralen Punkt aufgreifst: Sich selbst die Erlaubnis geben, einen Entschluss fassen. Du hast absolut recht, dass du dann dem Druck von außer besser standhalten kannst. Du bist dann selbst-bewusst Handelnde und hast nicht mehr das Gefühl, dich rechtfertigen zu müssen. Denn dazu gibt es keinen Grund! Und ich freue mich noch ein bisschen dran, dass du meine Worte als ermutigend bezeichnest. Herzlich, Anne