(Diesen Artikel habe ich im April 2024 völlig überarbeitet)

Mut zur eigenen Lebensvision: Zwischen Angst, Risiko und Lebensträumen

Welchen Einfluss sollte eine Erkrankung mit Risikofaktoren auf deine Lebensentscheidungen haben? Wie kommst du für dich zu Antworten, die zu dir passen?
Ich beginne mit mir als Beispiel, gebe dir dann Fragen an die Hand für deinen eigenen Entscheidungsprozess und noch eine Einschätzung dazu, welche Art von Begleitung ich sinnvoll finde.

Wichtig ist: Es geht nicht um Arbeiten mit Behinderung, das ist ein vollkommen anderes Thema. Es geht um die diffuse Situation, in der du zwar „etwas hast“, jedoch nicht behindert und zu einem Zeitpunkt Entscheidungen treffen musst, in der du keine Ahnung hast, wie sich alles weiter entwickeln wird – deine Erkrankung und die Wissenschaft.


Berufswahl: Damals mit 19

Der innere Konflikt: Zwischen Vernunft und Leidenschaft

Ich bin 18. Meine Eltern bringen mir eines dieser Infohefte zu Berufen und Laufbahnen mit, die man damals anfordern konnte (Vor-Internetzeiten ;): Mittlere- und höhere Beamtenlaufbahn. Ob dies nicht was für mich sei? Ein sicherer Job, für den Fall, dass ich später sehbehindert werde. Ich weiß nicht mehr, ob ich gelacht habe oder protestiert. Ich, eine Beamtenlaufbahn? Es fühlt sich spontan nicht gut an; mein Kopf liefert (vermeintlich) vernünftige Argumente: Ist vielleicht das Beste für dich. Und es gibt doch da ganz verschiedene Möglichkeiten. Du kennst dich doch eigentlich gar nicht aus, kümmere dich drum. Mein Herz rebelliert. Ziemlich laut sogar.

Liebe Eltern, ihr könnt es euch denken: Die Ratschläge habe ich ignoriert oder sogar bewusst weggefegt oder als Einmischung in mein Leben empfunden, das weiß ich nicht mehr. Wie das so ist mit Ratschlägen, besonders, wenn du gerade in dein Leben starten willst.

Und ich schieße sie sehr gründlich ab, die gutgemeinten Ratschläge.

Meine Wahl: Raus in die Welt

Ich bin 19 und habe ein hohe Dosis Fernweh mitbekommen. Und entscheide mich zum „Unvernünftigen“: Ich will raus aus der Kleinstadt, etwas erleben, etwas Neues kennenlernen und gehe erstmal ein Jahr nach London als Au-pair. Ein tolles Jahr, das ich in vollen Zügen genieße. Danach beginne ich mit DEM Studium für eine extrem Kurzsichtige: Japanologie. (Ironie off): Stundenlang im schummrigen Licht einer kleinen, schlecht ausgeleuchteten Bibliothek, in der ich in Wörterbüchern komplexe Schriftzeichen suche. Das braucht für mich noch eine Portion Durchhaltevermögen mehr als für meine Kommilitoninnen. Währenddessen ein Jahr Japan mit intensiven Sprachkursen und einem Praktikum in einer Bank (echt, nichts war mir ferner, aber es war eine Möglichkeit). Ich liebe es! Nicht einfach, sicher nicht, aber Liebe ist ja auch nicht eine durchgehende Honeymoonreise. Auch nach meinem Studium folge ich meinem Fernweh, gehe nicht auf Nummer sicher, sondern nochmal drei Jahre nach Japan. Damals halte ich das nach dem sehr anstrengenden Studium auch für vernünftig, aber wenn ich ehrlich bin, ich wollte das einfach. Ausgerechnet Japan: Das Land, in dem alle strukturell Überstunden machen und ein hoher Einsatz vorausgesetzt wird. Mit scheuernden Linsen oder einer dicken Brille sicher nicht der einfachste Weg, so viel steht fest. Aber eben mein Weg. In Tokyo gibt es natürlich hochspezialisierte Augenärzte, aber bevor ich nach Tokyo gehe, lebe und arbeite ich ein Jahr auf der ziemlich abgelegenen Insel Miyako. weitab von spezialisierten Augenarztkliniken. Naiv? Vermutlich. Und auch genau mein Ding.

Unterschiede zu deiner Situation heute

Heute vielleicht nicht zu begreifen, aber damals hatte ich tatsächlich nicht wirklich abgespeichert, dass ein nicht unerhebliches Risiko besteht auf eine Netzhautablösung. Irgendwie hatte ich Aussagen von Augenärzten, die sich da früher auch weniger sicher waren, verdrängt und Internet gab es noch nicht.
Diesen Vorteil hatte ich sozusagen zu dir, heute, wo so viel mehr bekannt ist zu hoher und pathologischer Myopie, mit allen möglichen Risiken.
Kurzer Einschub: Gute Nachricht ist, heute gibt es viel mehr Forschung und Entwicklungen mit viel Hoffnung für deine Augenzukunft.

2000 mache ich mich selbständig als Trainerin, Moderatorin und Coach. Ich reise geschäftlich viel, national und international. Auch das ist sicher nicht die vernünftigste Entscheidung bei meinen dann – 23 Dioptrie-Augen.

Die Jahre in Japan und auch meine spätere berufliche Tätigkeit waren sicher sehr viel schwerer mit meinen Augen und den Problemen mit Linsen und Brillen als mit gesunden Augen. So viel steht fest. (Da hätte ich mir mehr Mitgefühl mit mir selbst gewünscht, sehr viel mehr Mitgefühl – aber das ist ein anderes Thema).

Mit fünfzig werden die Folgeerkrankungen meiner pathologischen Myopie immer deutlicher. Mein sehr herausfordernder, intensiver Beruf als selbstständige Trainerin wird immer schwerer durchzuhalten und auf dem professionellen Niveau durchzuführen, das Kunden von mir kennen und erwarten. Eigentlich freie Zeit brauche ich, um wieder Kraft zu schöpfen. Aufträge kann ich nicht alle annehmen. Mit dreiundfünzig ist klar: Jetzt geht es nicht mehr.

Als Selbständige eine Katastrophe: Keine Arbeit, kein Einkommen. Niemand, der dir einen anderen Posten sucht, Teilzeit kaum sinnvoll möglich. Als Beamtin wäre das vermutlich anders.

Das Foto zeigt ein Labyrinth aus Steinen und im Hintergrund eine Brücke, als Symbole für das Leben, die Suche, das Ankommen.

Selbstreflexion: Hätte, hätte Fahrradkette oder doch eine andere Haltung?

Es gibt Zeiten, da mache ich mir Vorwürfe. Je verfahrener meine Situation gerade scheint, je mehr Vorwürfe mache ich mir. Für eine Weile. Dann fasse ich einen Entschluss:

  • Hätte, hätte Fahrradkette..: Das macht nur unglücklich und verändert absolut nichts im Jetzt. Nie. Das lasse ich also sein.
  • Ich reflektiere: Wenn ich gut über mich nachdenke, wer ich bin und wie ich bin, hätte ich nach jetzigem Wissenstand damals lieber eine andere Entscheidung getroffen? Hypothesenbildung natürlich. Ich glaube: Nein. Oder höchstens Jein. Damit kann ich gut leben.
  • Ich suche Lösungen und Wege für das Jetzt.
  • Was ich im Außen nicht ändern kann, ändere ich in mir. Ich baue eine Art Skillset aus und auf, das mir hilft, mit den Unsicherheiten des Lebens besser umgehen zu können, Zukunftssorgen anders begegnen zu können und annehmen zu können, was ist. Ich forsche, lerne, entwickle. Wieder etwas, das genau zu mir passt. Neues, andere innere Welten, nicht Stehenbleiben.

Methode: Gespräch mit meinem 19-jährigen Ich

Du bist gerade 19? Dann lies trotzdem, vielleicht kannst du aus meinen Erfahrungen ja was mitnehmen.

Frage: Sage mal, was soll ich tun, den vernünftigen, sicheren Weg gehen? Für den Fall, dass ich mal irgendwann schlechter sehen kann?

Erste Antwort, mein vernünftiges Ich: „Natürlich. Alles andere ist tollkühn und dumm. Ein typischer Fall von Verdrängung. Du musst an deine Zukunft denken! An finanzielle Absicherung. Eine Umgebung, in der du mehr Möglichkeiten hast, auch wenn du schlechter siehst.“

Gefühl: Das klingt gut. Nein, das klingt vernünftig. Sehr vernünftig. Mir wird automatisch ganz dumpf ums Herz. Über fünfzig ist nicht vorstellbar, ein vages Risiko auch nicht. Ich sehe mich wie aus einem Film der fünziger, so mit Ärmelschonern in einer Amtstube. (Das ist natürlich unsinnig, aber sage das mal meinem 19jährigen Ich).

Frage: Was soll ich nur tun? Ganz vernünftig sein oder meinen eigenen Weg gehen, etwas tun, was mich bereichert, was zu mir passt?

Zweite Antwort, aus dem Bauch heraus, gepaart mit Vernunft: Ja! Unbedingt.


Hätten meine Eltern mich umstimmen können?

Ich glaube nicht. Das Risiko war viel zu schwammig, Alter viel zu weit weg. Sicherheit ein Konzept, das in meinem Leben damals so gar keine Rolle spielte. Im Gegenteil: Ich hatte Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach dem Neuen.

Ich bin meinen Leidenschaften und meiner Abenteuerlust gefolgt. Ich habe getan, was ich gerne tun wollte.
Wie reich fühle ich mich an Erfahrungen und Erinnerungen, die mich auch jetzt noch begleiten, wo Vieles so nicht mehr geht. Wie sehr hat mich diese „Dummheit“ zu der Anne gemacht, die ich heute bin. Wie froh bin ich darüber.

Ich bin nicht als Grundtyp Abenteurerin. Ich interessiere mich leidenschaftlich für andere Menschen, für andere Kulturen. Mir gibt es einen Kick, wenn mir meine Erlebnisse aufzeigen, wie viel mehr Möglichkeiten es doch gibt, um über die Welt nachzudenken.

Sicherheit, abgesichert sein. Das klingt heute auch in meinen Ohren gut, sehr gut sogar. Wie schön wäre ein Leben ohne existentielle, finanzielle Fragen. Das ist heute. Aber ich fühle kein Bedauern darüber, denn ich habe ja keine Ahnung, was dann gewesen wäre. Wäre es dann besser gewesen, schlechter oder einfach anders? Who knows? Niemand. Genau.


Hätte ich mich für einen anderen Lebensweg entschieden, wenn ich gewusst hätte, was das heute für mich für Konsequenzen hat?

Du ahnst es schon: Nicht damals, mit 19 Jahren. Da bin ich sicher. Dann hätte ich das Leben von anderen Menschen gelebt und nicht meines.

Ich habe mich für einen anderen Weg entschieden, damals mit 19, als ich „nur“ – 20 Dioptrien hatte und es absolut nicht mit Sicherheit zu prognostizieren war, wie sich alles weiter entwickeln könnte. Ich habe mich für eine Idee von mir entschieden, die besser zu mir und meinen Wünschen an mein Leben passte. So gut ich das wusste und konnte. Mehr geht nicht, oder?


Was ist vernünftig? Was bedeutet es, das Richtige zu tun?

Das kannst im Endeffekt nur du entscheiden. So schön es wäre, aber diese Entscheidung kann dir niemand abnehmen. Meine Meinung: Vernünftig und klug sind zwei sehr unterschiedliche Dinge. Ich bin für klug.

Im Folgenden habe ich einige Fragen zusammengestellt, die dir bei deinem Entscheidungsprozess helfen können:

  • Was passt zu mir als Mensch? Was macht mich glücklich?
  • Angenommen, ich hätte keine Angst, was würde ich dann tun?
  • Was würde ich vermutlich bedauern, wenn ich es nicht täte? Wie wichtig ist mir das, auf einer Skala von 0 bis 10?
  • Realistische Risikoeinschätzung in Relation zu Lebenstraum?
  • Was ist Lebenserfolg für mich? (Große Frage, wenn du noch ziemlich jung bist, das gebe ich zu. Was ich meine ist: Erfolg ist nicht nur Karriere, sondern alles, was zum Leben gehört)
  • Wie viele Jahre meines Lebens bin ich bereit im gefühlt falschen Leben zu leben für den Fall, dass ich (ganz) vielleicht später sehbehindert werde? (Für „später sehbehindert“ kannst du beliebig einsetzen, was dir Angst macht. Alleine alt werden, nicht abgesichert sein, keine Karriere machen)
  • Welche Rolle spielen meine Augen, meine Erkrankung konkret? Wo macht es Sinn, sie mitzudenken? (Und wo suche ich nach Absicherungen, die es nicht gibt und hält mich meine Angst fest)
  • Idee: Plan A und dann Plan B: Vielleicht möchtest du erst deinen Sehnsüchten folgen und dann nach einem Jahr, nach zwei oder nach fünf nochmal schauen, ob du die Weichen anders stellen möchtest. Keine Entscheidung ist für die Ewigkeit! (Heute weniger denn je)
Sehheldin Symbol: Sonne aus kräftigem Dunkelrot

So kann ich dich unterstützen: Lebensvision Plus

Meine Erfahrungen aus Berufsberatungen und Berufsvisionscoachings: Hier wird in der Regel so getan, als gäbe es deine Augen nicht. Wenn du nicht sehbehindert bist, wird das weggewischt, kleingeredet, zu groß gesehen oder ignoriert. Been there, done that.
Da kommt dann so was heraus, wie „Werde doch Beamtin“ oder „Mache doch genau das, was zu deinen Talenten passt. Das mit deinen Augen ist doch noch gar nicht so ein Faktor.“ Das halte ich, pardon my French, für Quatsch und nicht hilfreich. Auch Phrasen wie „Du bist doch mehr als deine Augen“ sind zwar grundsätzlich und selbstverständlich wahr, helfen aber auch kein bisschen weiter.

Fakt ist:

  • Du hast eine Augenerkrankung, die einen Unterschied macht.
  • Du machst dir Gedanken, die dürfen nicht weggewischt werden, sondern müssen sinnvoll und vollständig gesehen werden. Wo kommen sie her? Was bedeuten sie für dein Leben? Welche Ängste machen auf etwas Wichtiges aufmerksam, welche sind genau das: Ängste, die vielleicht nie Realität werden? (oder wenn, kannst du mit den Realitäten wieder gut umgehen)
  • Du bist du: Mit deinen Wünschen, Sehnsüchten, Talenten und Stärken. Die müssen auch gesehen werden – UND deine Gesundheit.
  • Du lebst nicht im luftleeren Raum, sondern Jetzt, als Teil eines Systems, einer gesellschaftlichen Stimmung und Entwicklung. Auch das spielt eine Rolle.

Zusammen ist besser als alleine! Schreibe mir eine kurze Mail an: hallo@sehheldin.eu und wir überlegen, ob wir da ein Stück zusammen gehen können.

Du läufst lieber alleine? Auch gut. Bleibe mutig und neugierig! Denk dran: Du bist deine Augen UND noch ganz viel Anderes. All das ist wichtig. Und DU.

PS. Fakt ist, sie hätten mich vermutlich nicht durch die Gesundheitsprüfung „gewunken“ mit meiner Kurzsichtigkeit als Risikofaktor. Das wussten wir damals nicht und es ist für diesen Artikel auch nicht wesentlich.

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