(Überarbeitet: 25-11-2024)

Wenn du ein Wort hast, nimmst du dich ernst. Ohne Worte für das, was du „hast“ bleibst du unsichtbar.Dieses Unsichtbarsein möchte ich beenden – für mich, für dich, für alle mit Hoher Myopie.

Wenn wir kein Wort haben für das, was wir haben und was Teil von uns ist, bleiben wir unsichtbar – für uns selbst und für andere. Ein Wort zu haben, bedeutet, sich selbst ernst zu nehmen und ernst genommen zu werden.

Anne Niesen – SEHHELDIN

Dieser Artikel ist für dich

  • wenn du hochgradig kurzsichtig bist (-6 Dioptrie oder mehr).
  • wenn du noch nicht weißt, dass hohe Myopie seit 2014 als ernstzunehmende Augenkrankheit gilt.
  • wenn du glaubst, Kurzsichtigkeit sei nur eine Frage von Brille oder Kontaktlinsen

Die längste Zeit meines Lebens habe ich ausschließlich gesagt, dass ich „stark kurzsichtig“ bin. Das habe ich nach Außen kommuniziert und im Inneren so formuliert. Was ich und die Welt hörten: Dicke Brille oder Kontaktlinsen, die nicht unproblematisch waren.

Aber eine ernstzunehmende Augenerkrankung? Ich? Dieses Bewusstsein hatte ich nicht, vielleicht ist dieses Wissen sogar heute noch nicht in seiner tiefen, tatsächlichen Bedeutung angekommen. Zu lange waren die Jahre in denen „Brille auf und weiter“ mein Hauptmodus waren.

Eine typische Unterhaltung ging in etwas so:

„Ich bin kurzsichtig.“

„Oh ja, ich auch. Ich habe minus zwei Dioptrie und meine Mutter hat sogar minus drei Dioptrie.“

„Ich habe – und hier nun eine Dioptriezahl zwischen minus zehn und minus dreiundzwanzig einsetzen.

„Oh, das ist viel.“

Ende der Konversation. Das Gespräch ging nie weiter und ich meine damit, nie. Maximal noch eine Frage nach Optiker oder Brillen. Keine danach, wie es für mich ist, was es bedeutet, wie es meinen Alltag bestimmt.

Denn es war ja „nur“ Kurzsichtigkeit und das haben ja so enorm viele andere auch. Nichts Besonderes also und sicher nichts, was danach fragt, sich besonders zu Informieren. Unpraktisch, ja. Eine große Quelle des Unglücks, die immer dickere Brille, aber eine ernstzunehmende Augenkrankheit? Das verstand maximal mein Unterbewusstsein.

Erst jetzt, durch viele Posts und Gespräche ist mir deutlich: Das ist keine Einzelgeschichte, isondern nach wie vor eher die Norm.

Was ist Hochgradige Kurzsichtigkeit (Hohe Myopie)

Medizinsiche Fachartikel sind nicht meine Kompetezn. Daher hier nur kurz und knapp:

Hohe Myopie beginnt offiziell  bei einer Kurzsichtigkeit von minus sechs Dioptrie oder noch genauer: Bei einer Achslänge von mindestens 26,5 mm – normal ist eine Achsenlänge von 23,5 mm. Ab dann ist das Risiko zum Biespiel für Netzhauterkrankungen oder Glaukom erhöht. Je länger das Auge, je größer werden die Risiken später ernsthaft sehbehindert zu werden.


Übrigens: Du bist hochmyop und hast noch nie etwas von der Relevanz deiner Achsenlänge bei einem hochmyopen Auge gehört? Ein sicheres Zeichen dafür, dass deine Fachleute entweder nicht gut informiert sind oder dich nicht ausreichend informiert haben.

Einige weiterführende Links:


Viele wissen nicht, dass zwischen minus 1 und minus 23 Dioptrien Welten liegen – gesundheitlich und psychologisch. Fachleute wie Optiker und Augenärzte informieren oft nur sehr ungenügend bis gar nicht. (Großen Dank an diejenigen, die es doch tun und sich selbst auf neuestem Stand halten!)

Ein Begriff, der uns sichtbar macht: Warum ‚Hohe Myopie‘ der Name ist, den wir brauchen

Meine Überzeugung:

Wenn du kein Wort hast, wenn du nicht weißt, dass hochgradige Kurzsichtigkeit eine Krankheit ist, dann suchst du nicht weiter. Dann findest du nicht die besten Lösungen für dich oder dein Kind.

Wenn du kein Wort hast, ist das wie ein Buch ohne Titel – schwer zu verstehen, schwer ernst zu nehmen, schwer sichtbar zu machen.

Dann nimmst du dich und deine Gefühle nicht ernst, nicht deine Ängste, nicht deine Sorgen. Du nimmst nicht wahr, was dies alles mit dir macht, welchen Einfluss dies auf dein Leben, deine Entwicklung und deine Identität hat.

Darum braucht das Kind einen Namen. Nicht um des Namens willens natürlich. Sondern damit in der gesamten Gesellschaft deutlich ist: Es gibt da Unterschiede. Kurzsichtigkeit ist nicht gleich Kurzsichtigkeit. Minus zwei Dioptrie ist eine Anomalie, minus sechs ist eine Augenerkrankung und im zweistelligen Bereich wird die Wahrscheinlichkeit hoch, irgendwann mal schwer seheingeschränkt zu sein.

Wir brauchen ein gemeinsames Wort, damit hochgradige Kurzsichtigkeit ernst genommen wird – von allen.

Das mit dem einen Wort ist aber gar nicht so einfach aus verschiedenen Gründen. Ich bin mal auf die Suche gegangen.

Die Vielzahl von Fachbezeichnungen stiftet Verwirrung

Myopie ist das offizielle Wort für Kurzsichtigkeit, jede Kurzsichtigkeit. Da gibt es keine Verwirrung.

Für Myopie im höheren Bereich stoße ich bei der Recherche auf eine Unzahl von Begriffen: Myopia Gravior, pathologische Myopie, Myopia Magna, degenerative Myopie, hohe Myopie, maligne Myopie, progrediente Myopie.

Sind dir diese lateinischen oder griechischen Namen schon begegnet? Kannst du genau definieren, wo es nur ein anderes Wort für das Selbe ist oder wo es etwas Anderes definiert?

Jedes Mal, wenn ich denke: Ich verstehe es, verwirrt mich die nächste Information wieder. Und diese Verwirrung hat Konsequenzen: Das Gehirn gibt auf. Wir schauen und denken nicht wirklich weiter. Wir bleiben beim Gewohnten.

Dann hat das Kind wieder keinen Namen für uns Betroffene. Irgendwie kurzsichtig eben.

Meine Mission: Auch die im „Dazwischen“ sehen

Dazwischen- Wer soll das sein?

Das sind all die, die nicht im normalen Bereich sind, aber auch nicht sehbehindert. Die eine offiziell anerkannte Augenerkrankung haben, aber ausser auf Kongressen von Augenfachleuten nirgendwo Erwähnung finden.

Ich hatte im „Dazwischen“ nie einen Ort. ´Nirgends. Niemand mit ähnlichen Werten und keinen professionellen Ort. Wenn du hochgradig myop bist, aber noch einen Visus von 1 hast existiert du sozusagen nicht. Unsichtbar.

Ein klein wenig sichtbarer wirst du, wenn dein Visus sich etwas verschlechtert, aber so lange du nicht offiziell anerkannt sehbehindert bist, bleibst du weiter in der Nebelzone zwischen den Welten hängen.

Für Kinder bzw deren Eltern gibt es heute erfreulicherweise mehr und mehr Informationen zu Myopiemanagement, für stark Sehbehinderte gibt es Netzwerke und Organisationen. Aber die dazwischen haben keinen wirklichen Ort, werden nicht gehört, haben kein Netzwerk, keinen „Tribe.“


Nachsatz: Heute kann ich mit Stolz und Freude sagen, dass sie keinen Ort „hatten“: Denn ich habe vor einigen Jahren die Facebookgruppe „Heimat für Hochmyope“ gegründet. Für alle ab minus sechs Dioptrie und für Eltern myoper Kinder. Damit alle willkommen sind, die einen Ort suchen. Einen Ort, an dem keine Frage kleiner oder größer ist. Einen Ort, an dem du verstnaden und gehört wirst.


„Sie haben noch einen so hohen Visus? Tut mir leid, dann können wir Ihnen nicht weiterhelfen. Das ist ja rein kosmetisch.“

Das war noch vor gar nicht so vielen Jahren die Antwort einer Augenorganisation, als ich mich endlich mal mit meinen Augen auseinandersetzen wollte. Kein Ort, nirgends. Irgendwie kurzsichtig eben.

Nicht ernst genommen. Unsichtbar. Das, was keine Erkrankung ist und bei hohem Visus auch keine Sehbehinderung, das besteht nicht. Kein Ort, keine Gemeinschaft, kein Wieder-Erkennen, kein „Tribe“. Keine Anerkennung der Sorgen und Nöte. Hauptsache, die Brille ist gut eingestellt und die Linsen können weiter getragen werden.

Das macht unsichtbar. Für alle: Dich selbst und die Gesellschaft.

Deswegen plädiere ich für einen Oberbegriff. Ein anerkanntes Wort, das sagt: Ja, das ist eine Augenerkrankung. Ein Wort, mit dem alle gemeint sind: Von minus sechs Dioptrie und Visus 1 und minus 25 Dioptrie oder einem Visus von 0,1. Ein Wort, das nicht trennt, sondern sichtbar macht. Denn Myopie ist nicht nur eine Zahl nach dem Minus!.

Meine Überzeugung: Ein Oberbegriff vereint und stärkt

Früher war es mir völlig unwichtig ein Wort zu haben. Erst seitdem ich mich für die SEHHELDIN so intensiv mit dem Thema beschäftige wird mir klar, was dieses „unsichtbar sein“ für eine enorme Wirkung haben kann. Wie sehr es verhindert, dass du dich informierst und dir die richtigen Fachleute suchst; und wie sehr es auch verhindert, dass du dich damit beschäftigst, was das mit dir als Person zu tun hat. Deine Augen und deine Sicht sind Teil von dir. Und bei hoher Myopie bist du wahrscheinlich sehr früh in deinem Leben mit Brille gestartet. Das macht einen Unterschied für dich, dein Leben und dein Selbstverständnis.

Nochmal: Ohne einen Namen für unsere Krankheit nehmen wir sie nicht ernst – und damit auch nicht uns selbst. Nur was gesehen wird, existiert.


Hohe Myopie: Meine Vision

  1. Zukünftig wissen alle ab – 6 Dioptrien: Ich habe Hohe Myopie.
  2. Optiker benutzen das Wort Hohe Myopie, Ärzte selbstverständlich auch.
  3. Es ist die Bezeichnung, die allgemein verwendet wird.
  4. Augenfachleute wissen, dass dafür Spezialwissen auf dem neusten Stand nötig ist und geben ihre eigenen Grenzen an, wenn das nicht ihre Expertise ist.
  5. Das Wort gibt eine Art „Augenheimat“ und positive Sichtbarkeit.

Ich spreche jetzt also konsequent von Hoher Myopie, auch wenn dies in Deutschland noch fast niemand tut. Ich benutze auch mal den Ausdruck pathologische Myopie, wenn es um die extreme Kurzsichtigkeit geht, wie ich sie habe.

Liebe Mit-Hochmyope, bist du dabei? Wenn wir nicht, wer dann, oder? Lasst uns sichtbar sein und uns ernst nehmen – für uns und die nachfolgenden Generationen.

Du zuckst noch innerlich zusammen bei dem Begriff „Krankheit“? Das verstehe ich. Been there, done that. Willkommen auf der Reise, dich zu sehen und ernst zu nehmen. (und damit rede ich nicht von Angstmacherei!)

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