Heute möchte ich euch von ganzem Herzen einen Vortrag empfehlen, der durch die Retina Suisse am 23. September 2020 organisiert und durchgeführt wurde. Es geht um Makuladegeneration, es geht um die Zusammenarbeit von Gehirn und dem Organ Auge; es geht um messbare und nicht messbare Folgen und was dies für Patienten und auch Angehörige bedeutet.

Der Referent ist PD Dr med. Florian Sutter, tätig an der Augenklinik Herisau und Appenzell.

Darum empfehle ich den Vortrag „Ich sehe was, was du nicht siehst“

  1. Dr. Sutter legt Zusammenhänge nachvollziehbar dar. Er erklärt, was in den Augen und im Gehirn passiert und welche Konsequenzen dies für uns hat.
  2. Ich bin überzeugt: Wissen gibt Kraft. Wissen macht selbstbewusst und hilft uns, anzunehmen, was wir nicht verändern können.
  3. Je besser wir erklären können, je mehr Einsichten wir geben können, desto mehr haben Menschen in unserer Umgebung eine Chance, uns zu verstehen.
  4. Weil ich am liebsten ganz laut rufen möchte: Solche Augenärzte wünschen wir uns!

Mein Blogbeitrag

  • fasst die Punkte zusammen, die ich sehr gerne gleich zu Beginn meiner Netzhaut- und Makulaveränderungen gewusst hätte.
  • Ich arbeite heraus, was ich so besonders wertvoll an diesem Vortrag fand, jenseits der inhaltlichen Informationen.

„Nicht so sehr messbar, aber umso relevanter und störender“

Ich steige ein mit einem fast wörtlichen Zitat aus dem Vortrag, gleich vom Anfang:

„Sehprobleme haben ja zwei Komponenten. Eine messbare, funktionelle Ebene: Welche Funktionen verliert man, was kann oder darf man nicht mehr. Das ist die quantitative, messbare Ebene. Aber Seherkrankungen haben auch eine sehr persönliche Ebene mit subjektiven Beschwerden: Man ist stark geblendet, man sieht nicht immer gleich gut, man hat punktuell Mühe, zum Beispiel man erkennt die Kollegen und Freunde auf der Straße nicht mehr, obwohl man sonst eigentlich das Gefühl hat, gut zu sehen. Man hat eigenartige Phänomene wie Pseudo-Halluzinationen usw. Ich nenne das die qualitative Ebene. Das ist nicht so sehr messbar, es ist sehr persönlich, aber umso relevanter und störender für die Patienten.“

In dieser kurzen Einleitung befindet sich schon so Vieles, was so wichtig ist, zu verstehen.

  • Nicht alles ist messbar. Wenn wir denken, wir sehen schlechter, dann sehen wir schlechter.
  • Makuladegeneration und andere Netzhautprobleme gehen einher mit massiven subjektiven Beschwerden, die emotional sehr belastend sein können.
  • Man sieht nicht täglich gleich, es gibt Schwankungen. (Das ist dann keine Einbildung)
  • Mein eigener Seheindruck entspricht nicht unbedingt der Wirklichkeit. (Phänomen: FIll-In, dazu später mehr)

Ob ihr zuerst den Vortrag hört oder meinen Artikel lest, ist egal, denke ich. Ich möchte den Vortrag ergänzen, zum Bewusstsein bringen, was so besonders wertvoll war aus meiner Sicht und einige Punkte zusammenfassen, damit sie später leicht auffindbar sind. Natürlich gibt es noch ein paar extra-SEHHELDIN Zutaten und Gedanken.

Wo mich der Vortrag zu Tränen rührt

„Bei Makula Patienten kommt Information im Gehirn an. Das ist aber eine schlechte Info. Und dann kommt noch die ausgeprägte Lichtempfindlichkeit hinzu. Das führt zu einem ausgeprägten subjektiven Leiden. Gerade am Anfang ist die Sehschärfe oft gar nicht so schlecht, aber das subjektive Leiden ist viel höher zu bewerten und wird auch viel stärker empfunden.

Das führt auch zu sozialen Spannungen zum Teil in der Familie und in der Beziehung, weil diese Patienten zu Recht sich beklagen, aber der Augenarzt sagt immer, „ja aber die Sehschärfe ist ja gar nicht so schlecht.“

Genau hier kommen mir die Tränen, Tränen, die alt und nie geweint sind, seit Jahrzehnten angesammelt und aufgespart. Woran rühren diese Aussagen von Dr. Sutter?

Nicht gesehen werden durch manche Augenärzte

Immer wieder kommt es zur Sprache in meiner Hohen Myopie Gruppe oder in anderen Foren: Wir hören in der Regel von Augenärzten, was messbar ist. Wir hören Sätze wie: „Sie haben für Ihre Augen doch einen guten Visus. Seien Sie froh.“ oder „nein, ich kann nichts feststellen, seit dem letzten Mal messe ich keine Veränderung.“
Wenn wir aufmerken, dass wir extra gekommen sind, weil wir schlechter sehen oder anders sehen als noch vor einigen Monaten, dann bekommen wir gerne mal Antworten wie: „Das sehe ich in meinen Ergebnissen nicht.“

Und Tschüss.

Dann stehen wir auf der Straße mit unseren Gefühlen im Herzen und Fragen im Kopf und fangen im besten Fall an zu googeln. Wir zweifeln an uns und halten uns imöglicherweise für Simulanten und unsere Angehörigen wundern sich auch.

SEHHELDIN-Meinung

Wie sollen wir verarbeiten und akzeptieren, dass wir nicht mehr so sehen, wie wir gerne würden, wenn uns scheinbar noch nicht mal unser Augenarzt glaubt?

Ich behaupte: Das ist unmöglich.

„Eine systematische Erklärung ist hilfreich“ (Zitat Dr. Sutter)
Absolut, ich bin überzeugt: Ohne geht es nicht.

Unsere Augen gehören zu uns. Wir können sie nicht ignorieren. Vom ersten Augenaufschlag an, sehen wir anders. Wenn wir nicht verstehen, was da passiert, was Fakten sind, was konkrete Folgen sind, dann verstehen wir UNS nicht.

Solche Augenärzte wünsche ich mir

Ein Arzt, der sagt: Das ist hart, das ist schwierig.

Ein Arzt, der genau das zitiert, was viele von uns schon so viele Male gehört haben sagt: „Ich sehe dich. Ich glaube dir.“

Ein Arzt, der sagt: Das kann für Konflikte sorgen. Schau, ich erkläre es dir, denn Begreifen hilft.

Ein Arzt, der uns nicht als Augen wahrnimmt, sondern als Menschen und als Menschen, die nicht alleine im Leben stehen, sondern Angehörige und Freunde haben.

Das ist mir mindestens ein Herz wert.


Teil 2: Konkrete Informationen zu Augen und Sehen

Lange habe ich überlegt, wie ich euch Inhalte näher bringe.
Im Folgenden zitiere ich einige der Aussagen Dr. Sutters genau oder dem Sinn nach. Ich habe sie subjektiv ausgewählt. Ich hoffe, dass der Vortrag noch lange nachzuhören ist, so dass du dir alles selbst anhören kannst!

Fakt: Wir sehen nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn

„Das Erkennen von Bildern und Situationen ist eine intellektuelle Leistung auf hoher Bewusstseinsebene.

Dr. Florian Sutter, Vortrag Retina Suisse

Wir schauen immer ein wenig umher während wir jemanden anschauen. Das Gehirn setzt dann im Bewusstsein eine Collage zusammen von den Ausschnitten, die wir eben gesehen haben und kreiert daraus ein Ganzes, was es in diesem Sinn so gar nicht gibt.
Wenn wir an einem Tisch mit mehreren Menschen sitzen haben wir das Gefühl, dass wir alle sehen, aber das ist nicht so. Das Gehirn erinnert sich daran, wie die Menschen vor wenigen Sekunden ausgesehen haben.

Zusammenarbeit Makula, Peripheriesehen und Gehirn

Wir sehen nur im Zentrum im Bereich der Makula ganz scharf. Am Rand, das heißt in der Peripherie der Netzhaut sehen wir Bewegungen wesentlich schneller als im Zentrum, sehen aber sehr viel weniger deutlich. Wenn die Makula ausfällt, dann kann das Gehirn aus dem Sehen in der Peripherie keine scharfen Bilder mehr zusammensetzen.

Kontrastsehen und Lichtempfindlichkeit

Die Netzhaut überträgt das wahrgenommene Bild auch nicht 1:1 ins Gehirn. Das Geflecht von Nervenzellen nimmt bereits eine erste Bearbeitung der Bildqualität vor.
Die Netzhaut erhöht je nach Situation künstlich den Kontrast der wahrgenommen Bilder und zwar bevor diese ans Gehirn gesendet werden. Dadurch können wir bei gesundem Augen bei sehr schlechter Beleuchtung und sehr grellem Licht gut sehen.

Ein verwandtes Problem ist die zum Teil sehr sehr störende Lichtabhängigkeit von Makulapatienten. Viele Netzhautpatienten brauchen einerseits sehr viel Licht, andererseits sind sie von diffusem Licht sehr rasch geblendet. Grund: Die gestörte Kontrastverarbeitung in der Netzhaut

Dieses eigentlich sehr simple Symptom kann eine sehr große Belastung sein zum Beispiel in einer Beziehung, wenn der eine Partner sich dauernd beklagt: Es ist zu hell. Es ist zu dunkel. Ich bin geblendet, nein ich brauche mehr Licht. Das ist für manche Patienten ein Problem, was sie den ganzen Tag begleitet. Es ist hilfreich zu verstehen, dass das normal ist.

Interessante Zusatzinformation zu Lichtempfindlichkeit
In einem Standardwerk von 800 Seiten existieren 1,5 Seiten über Lichtempfindlichkeit. Es gibt fast keine Augenerkrankung, die nicht Lichtempfindlichkeit bewirken kann. Das ist (trotzdem) ein Thema, was sehr stiefmütterlich von Wissenschaft und Augenärzten behandelt wird, weil wir damit schlecht zurande kommen. Wir wissen wenig darüber, es ist ein unspezifisches Symptom.

Sehnerv, Verarbeitung von Bildern, dominantes Auge

Der Sehnerv leitet die gephotoshopten Bilder über beide Sehnerven zum Gehirn, das heißt, wir müssten eigentlich auch immer zwei Bilder haben. In der Regel sehen wir nur ein Bild, weil unser Gehirn beide Bilder zu einem einzigen fusioniert.

Diese Fusion ist nicht symmetrisch. Jeder Mensch hat ein dominantes Auge, vom Gehirn bevorzugt. Es setzt die Bilder vielleicht 70 – 30 zusammen.

Wenn das dominante Auge aufgrund einer einseitigen Erkrankung deutlich schlechter sieht als das Partnerauge, dann kann das subjektive Sehen deutlich schlechter sein mit beiden Augen zusammen als nur mit einem, weil das Gehirn die guten Information des nicht-dominanten Auges überblendet mit den schlechteren Information des dominanten Auges. Manche Patienten können daher besser lesen wenn sie das schlechte Auge abdecken.

Wenn man bei einer OP plötzlich das nicht-dominante Auge zum besseren Auge macht, dann hat das Gehirn nie gelernt mit dieser Situation umzugehen. Das subjektive Sehen kann dann nach der OP schlechter sein. Eine zweite OP am anderen Auge kann dann sinnvoll sein.

Filling In

Zu diesem Phänomen des „Einfüllens“ habe ich einen Basis-Artikel geschrieben, der sehr populär ist: Ich sehe nichts, wo du was siehst.
Dr. Florian Sutter erklärt, was in der Kommunikation zwischen Auge, Sehen und Gehirn passiert und fügt noch einen sozialen Aspekt hinzu.

Wir merken ja normalerweise nicht, dass unser Gehirn da gerade eigene Bilder malt. Bei einer schönen Landschaft fällt uns das nicht auf, dann ergänzt das Gehirn einfach Berge oder Steine. Das Gleiche passiert auch bei Menschen. Das Gehirn ergänzt dann Augen, Mund, Nase, weil es abgespeichert hat: Das gehört zum Menschen. Die Information, die ein Gesicht individuell und wiedererkennbar macht, die füllt es natürlich nicht ein. Deswegen merken Menschen mit Makulaerkrankungen oft noch nicht mal, dass sie gerade irgendjemanden nicht erkennen, weil sie ja einen Mensch gesehen haben.

Das finde ich immer noch eine bsonders irritierende und erschreckende Vorstellung: Dass ich nicht mehr weiß, ob das, was ich sehe auch so existiert oder ob mir mein Gehirn gerade schöne Bilder malt.

Wie immer gilt: Sprich darüber!

Dann kommt ein Satz, der mich etwas erschreckt:
„Das ist aus meiner Sicht etwas wirklich Dramatisches bei Makulaerkrankungen, weil es zu sozialen Isolation führt. Der Patient trifft eine Person auf der Straße, umrunden diese, ist also offensichtlich nicht blind, aber sagt nicht „hallo X“, sondern läuft einfach vorbei.

Wie bitte? Soziale Isolation ist unausweichlich? So hörte es sich an. Per Chat habe ich nachgefragt, wie er das meint. Puh, nochmal Glück gehabt:
Es kann zur sozialen Isolation führen.
Was wir dagegen tun können: Menschen in unserer Umgebung erklären, was Sache ist, warum wir unter Umständen an ihnen vorbeilaufen, auch wenn wir grundsätzlich uns noch gut zurechtfinden.

Auch hier gilt: Ich kann nur erklären, was ich selbst verstanden habe!

Dr. Sutter geht auch ausführlich auf das Charles Bonnet Syndrom ein, Pseudohalluszinationen, die einen Extremfall des Filling In darstellen.
Höre dir dies unbedingt an, wenn du manchmal etwas siehst, von dem du genau weißt, dass es nicht dort ist!

Sehen ist wechselhaft und „unerklärlich“

Es kann sein, dass wir heute was nicht sehen, was wir gestern gesehen haben und morgen ist es wieder da. Oder Menschen mit Makuladegenerationen sehen die „Fliege auf dem Boden“ und können dann ein Formular nicht ausfüllen, weil das Gehirn diese Bilder nicht mehr liefert.

Myope Makuladegeneration

Schon öfter habe ich nach myoper Makuladegeneration gegoogelt, einer typischen Folgeerscheinung von pathologischer Myopie, also hochgradiger Kurzsichtigkeit (und meine Augenerkrankung). Dazu gibt es nur sehr wenige Informationen im Netz, in der Regel behandeln Artikel die sehr viel häufigere AMD, also altersbedingte Makuladegeneration.
Ich habe den Augenarzt nach Ende des Vortrages gebeten, ob er hier noch etwas erläutern kann.

Hier seine Antwort:
Bei der Myopen MD ist die Kurzsichtigkeit (Myopie) das Problem.
Durch das extreme Längenwachstum unseres Augapfels wird die Netzhaut stark gestreckt und ausgedünnt. Dadurch entstehen irgendwann dünne Stellen.

Die Ursachen sind daher andere als bei der AMD und der Verlauf ist in der Regel langsamer.
Aber: Die subjektiven Leiden sind genau die gleichen.

Der Leidensdruck ist bedeutsam, weil es auch junge Leute im arbeitsfähigen Alter trifft.

PD Dr. Florian Sutter zu myopischer Makuladegeneration

Da kann ich nur beistimmen, denn ich war Anfang 50 als meine Netzhaut links genau in der Mitte sich immer weiter ausdünnte und mich dort nun einen grauen Fleck sehen lässt.


Dr. Sutters Zusammenfassung und Appell

„Wir sehen nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn. Das Gehirn zeigt uns, was es für wichtig hält. Im Krankheitsfall führt das zu zusätzlichen Störungen, die über die rein funktionelle Einschränkung hinausgeht. Diese Symptome verursachen sehr viel Leiden, weil sie von Betroffenen und Angehörigen nicht richtig verstanden werden.

Meine Devise und das rate ich auch Ihnen: „Der Betroffene hat in der Regel recht. Das jemand Sehbeschwerden simuliert ist ausgesprochen selten.

Glauben Sie an sich selber. Formulieren Sie Ihre Beschwerden.“

Der SEHHELDIN-Appell zum Schluss:

  1. Glaube an dich, liebe Sehheldin, lieber Sehheld. Du simulierst nicht, du siehst, was du siehst.
  2. Nehme deine Gefühle ernst. Es ist nicht leicht. Du darfst traurig darüber sein. Du darfst dich freuen, wie du dein Leben trotzdem meisterst.
  3. Vertraue deinem tollen Gehirn: Wir lernen so viel und können uns an ganz viel Neues immer wieder anpassen. Das wird auch beim nächsten Schritt gelingen!
  4. Informiere dich. Kenne deine Augen. Verstehe die Zusammenhänge. Das wird dir Kraft geben und Selbstbewusstsein. Wenn du es nicht erklären kannst, kannst du von niemandem erwarten, dass sie dich verstehen!

Danke, Dr. Florian Sutter, der Retina Suisse und Stephan Hüsler, dem Geschäftsführer der Retina Suisse.
(Disclaimer: Ich bin keine Medizinerin, das heißt, ich garantiere nicht für die Richtigkeit meiner Informationen. Sollte ich etwas falsch verstanden haben, sagt mir bitte Bescheid. Hier nochmals der Link zum Vortrag)

Schreibe doch in die Kommentare: Was nimmst du mit aus dem Vortrag? Was aus meinem Artikel? Ich bin gespannt.

Bleibe mutig, deine Sehheldin

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